Buchtipp des Monats
2022

Ioana Pârvulescu
Wo die Hunde in drei Sprachen bellen
Roman
Das Tor ist der Mund, die Fenster sind die Augen – in der Vorstellung der kleinen Ana bekommt das Haus in der einstmaligen Johannisgasse im siebenbürgischen Kronstadt ein Gesicht, hat Gedanken und Gefühle. Zwei Erdbeben, zwei Weltkriege und einen Bombenangriff hat es heldenhaft überlebt und das Verschwinden seiner „Geschwister“ vis-à-vis auf Kosten eines Plattenbauhotels. Von den Bewohnern dieses Hauses über mehrere Generationen und mit mehreren Nationalitäten erzählt die gebürtige Kronstädterin Ioana Pȃrvulescu in ihrem ersten auf Deutsch veröffentlichtem Roman, dem es spielerisch gelingt, eine freudlose Zeit in einem permanenten Glanz erscheinen zu lassen.
Pressestimmen
Beiläufig und mit bezaubernder Leichtigkeit erzählt hier eine rumänische Autorin von der Geschichte und der Vergänglichkeit des multikulturellen Lebens in einer Stadt, die einst ein Zentrum siebenbürgisch-sächsischen Lebens war. Ein wunderbarer Roman ist Pârvulescu da gelungen, durch den man gehen kann wie durch ein literarisches Stadtmuseum.
Mirko Schwanitz, BR Diwan
Mit Witz und Intelligenz, sinnlicher Prägnanz und vor allem mit Wärme konterkariert Pârvulescu poetische Kindheitserinnerungen der sechziger Jahre auf versteckt sarkastische Weise mit der historischen Wirklichkeit des Kommunismus.
Jan Koneffke, Neue Zürcher Zeitung
Von Seite zu Seite empfindet man mehr Vergnügen beim Lesen dieses Buches, wachsen einem die Menschen, von denen es erzählt, enger ans Herz. Man möchte mit ihnen wohnen in diesem großen, alten Haus im siebenbürgischen Brasov (Kronstadt).
Jutta Czeguhn, Süddeutsche Zeitung
Auch die Wörter selbst rutschten in Kronstadt von einer Sprache in die andere, mit hoher Geschwindigkeit und Grazie, als trügen sie Schlittschuhe…
Doris Roth, Siebenbürgische Zeitung
Eckdaten
Ioana Pârvulescu: Wo die Hunde in drei Sprachen bellen: Roman. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. - München: Hanser Literaturverlage, 2021. – 360 Seiten. – ISBN 9783552072282
Quelle : Hanser Literaturverlage

Herta Müller
Der Beamte sagte
Erzählung
Herta Müller erfindet eine neue literarische Form des Erzählens. Eine Geschichte in Collagen. Gezeigt werden Szenen im Auffanglager einer deutschen Kleinstadt. Einer der Beamten in der Erzählung ist ein gewisser Herr Fröhlich von der Prüfstelle B. Er kann es mit den berühmtesten Vorbildern seiner Art aufnehmen. Ein anderer breitet bei jeder Begegnung die Arme aus wie ein Vogel und sagt Oh, Oh, Oh. Aberwitzige Gespräche mit ihnen werden zu einem unfreiwillig komischen Schlagabtausch. Ihrer Ablehnung und Ahnungslosigkeit steht die Frage gegenüber, ob man nicht gerade durch Ehrlichkeit suspekt wird. Ist die eigene Biografie die Summe des Erlebten oder wird sie vor den Beamten zu einem Panoptikum der Tristesse und Ironie? Und dann ist da das Heimweh der Geflohenen, das immer größer wird und an den Himmel anwächst. Meisterlich versteht es Herta Müller, Bilder dafür zu finden, wie sich Ohnmacht anfühlt und was Willkür anrichtet. Sie sind rätselhaft, abgründig, manchmal auch komisch und immer hochpoetisch.
Pressestimmen
[Herta Müllers Poesie ist] eine Poesie, die die Grenzen der herkömmlichen Dichtung überschreitet und eine neue Gattung bildet: die Herta Müller-De-Kompositions-Wort-Bild-Poesie, in der die alten Wörter und Bilder zerstört, neu zusammengesetzt, dabei aber in einer künstlerischen Form aufgehoben und bewahrt werden.
Ruthard Stäblein, Deutschlandfunk Büchermarkt, 04.10.21
Aus schnell durchlaufenden Einzelbildern entsteht ein mitreißender Wörterfilm.
Herbert Wiesner, Die Welt, 29.09.21
Jede Collage ist zart komponiert, und erzählt doch gleichzeitig vom Schmerz und von der Angst der Exilantin.
Christina Harthauer, SWR2 lesenswert, 22.08.21
[E]in Buch aus 156 einzelnen Kunstwerken[, das einen] Kontrapunkt zu einem leicht konsumierbaren Erzählfluss [setzt.] Auf engstem Raum zieht Herta Müller alle Register: Beißende Ironie und stille Trauer, Träume und realistische Details […], der Schnee, der Himmel und das Heimweh leuchten schmerzlich aus dieser Erzählung, die sich mit allen Mitteln dagegen wehrt, in einem Zug gelesen zu werden – das Eigengewicht der Wörter, Sätze und Bilder ist zu stark.
Cornelius Hell, Die Presse, 21.08.21
Eckdaten
Müller, Herta: Der Beamte sagte. Erzählung. Berlin Hanser Verlag, 2021.- 164 Seiten. - ISBN 978-3-446-27082-4
Quelle : Hanser Literaturverlage

Susanne Abel
Stay away from Gretchen: eine unmögliche Liebe
Roman
Der bekannte Kölner Nachrichtenmoderator Tom Monderath macht sich Sorgen um seine 84-jährige Mutter Greta, die immer mehr vergisst. Als die Diagnose Demenz im Raum steht ist Tom entsetzt. Was anfangs ärgerlich für sein scheinbar so perfektes Leben ist, wird unerwartet zu einem Geschenk. Erstmals erzählt Greta aus ihrem Leben – von ihrer Kindheit in Preußisch Eylau mit den geliebten Großeltern, der Flucht aus Ostpreußen vor den russischen Soldaten im eisigen Winter, der Sehnsucht nach dem verschollenen Vater, ihren Erfolgen auf dem Schwarzmarkt in Heidelberg und ihrer Begegnung mit dem GI Robert Cooper. Als Tom jedoch auf das Foto eines kleinen Mädchens mit dunkler Haut stößt, verstummt Greta. Ist all das der Schlüssel um Gretas Traurigkeit zu verstehen, die auch Toms Kindheit überschattet hat? Zum ersten Mal beginnt Tom, sich eingehender mit der Vergangenheit seiner Mutter zu befassen. Als Tom auf Briefe und Bilder aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stößt, kommt er einem unglaublichen Geheimnis auf die Spur. Wer ist das kleine Mädchen auf dem Foto, das Greta wie einen Schatz hütet? Mehr und mehr erkennt Tom, dass auch sein Lebensglück mit der Vergangenheit seiner Mutter verknüpft ist.
Pressestimmen
Grandios, packend und absolut glaubwürdig. Dieses Buch legt man erst aus der Hand, wenn man es ausgelesen hat.
WDR 5, Bücher
Dieser gut konstruierte Roman (…) erinnert daran, wie lang der Weg aus einem von Rassismus und Bigotterie geprägten Nachkriegsdeutschland war und welche Wegstrecke zu einer gerechteren Gesellschaft noch vor uns liegt.
Denis Scheck, ARD
›Stay away from Gretchen‹ erzählt die grosse Geschichte von Krieg, Flucht und Liebe.
Michel Wassner, Obersee Nachrichten
Susanne Abels ›Stay away from Gretchen‹ ist ein zutiefst berührender Roman über Liebe, Krieg – und das Glück, die eigene Vergangenheit kennenzulernen.
Freundin, Leseträume
Eckdaten
Susanne Abel: Stay away from Gretchen – Eine unmögliche Liebe. Roman. - München: dtv Belletristik, 2021.- 526 Seiten. - ISBN 978-3-423-28259-8
Quelle : Verlag

Tanja Langer
Meine kleine Großmutter & Mr. Thursday oder Die Erfindung der Erinnerung
Roman
Ich habe meine Großmutter gekannt, aber ich wusste nicht, dass sie es war.
Linda, Übersetzerin aus dem Persischen, lässt sich gern von ihren Träumen lenken, und so findet sie sich eines Tages in Lüneburg wieder: Dort lebte ihre kaum gekannte Großmutter Ida unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, geflohen aus Oberschlesien, verwitwet, mit fünf Kindern. Knapp eineinhalb Meter groß, arbeitete sie für den »Direktor des englischen Kinos«. Dieser Halbsatz entzündet Lindas Phantasie, und schon ist sie mitten in der Zeit der britischen Besatzung, von 1945 bis 1949: Ida verliert ihren Mann, Ida schrubbt Wäsche für die Tommys, und Ida begegnet Mr. Thursday. Sie fängt bei ihm im »Astra Cinema« an und merkt vor lauter Begeisterung für die Filme kaum, dass er sich in sie verliebt … Das Kino wird zum Gegenbild für die raue Wirklichkeit, durch die Ida und ihre kleine Rasselbande sich als »Flüchter« durchboxen, mit Einfallsreichtum, der Kraft der Träume und der Liebe, die sie verbindet. Indem Linda aus Sehnsucht nach der Großmutter, die sie nicht hatte, zu deren Erzählerin wird, verändert sie sich selbst – und erzählt noch dazu die Geschichte einer ganzen Epoche.
Pressestimmen
Durch die Lupe der Schriftstellerin werden die Personen groß und einzigartig. Das prachtvolle Spektrum menschlicher Empfindungen geht mit prägnant gezeichneten Aussagen einher.
Cornelia Ohst, Marbacher Zeitung
Dieses wunderschön gestaltete Buch hat bei mir nicht nur mit Vorurteilen aufgeräumt, sondern zeugt auch von Toleranz, Mut und Stärke, und es hat sich ohne Mühe dank seiner unglaublich starken – wenn auch kleinen – HeldinDieses wunderschön gestaltete Buch hat bei mir nicht nur mit Vorurteilen aufgeräumt, sondern zeugt auch von Toleranz, Mut und Stärke, und es hat sich ohne Mühe dank seiner unglaublich starken – wenn auch kleinen – Heldin Ida ruckzuck in mein Herz geschrieben! Einfach nur toll!
Tatjana Mayeres, Alliteratus
Ein bewegender Roman, der als spannende Spurensuche und anrührende Lebensgeschichte zugleich in den Bann zieht.
Beatrice le Coutre-Bick, Literaturhäuser Niedersachsen
Tanja Langer hat bemerkenswert viel zeitgeschichtliches Kolorit in ihren Roman geholt, sehr konkret, anschaulich, sinnlich.
Sächsische Zeitung
Die Geschichte einer starken Frau im Nachkriegsdeutschland ist fesselnd erzählt und enthält – sicherlich nicht unbeabsichtigt – starke Gegenwartsbezüge.
ekz Informationsdienst
Eckdaten
Tanja Langer: Meine kleine Großmutter & Mr Thursday oder Die Erfindung der Erinnerung.- Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag, 2019. – 415 Seiten. - ISBN 978-3-96311-181-5
Quelle : Verlag

Matthias Nawrat
Reise nach Maine
Roman
Ein Mann – er ist Schriftsteller von Beruf, nachdenklich und ein wenig konfliktscheu – will die USA bereisen. Zunächst nach New York City, dann weiter Richtung Maine. An seiner Seite eine meinungsstarke Osteuropäerin, die seit dreißig Jahren im Fränkischen zu Hause ist: seine Mutter.
Von Beginn an liegt ein Schatten auf der Unternehmung: Donald Trump ist seit kurzem Präsident der angeschlagenen Nation, und Celina hat ihrem Sohn kurz vor der Abreise eröffnet, dass sie, anstatt die zweite Reisewoche bei einem Jugendfreund in Texas zu verbringen, die ganze Zeit mit ihm zusammenbleiben wird. Dann hat sie auch noch einen Unfall. Mit gebrochener Nase und zwei blauschwarzen Veilchen zieht sie überall die Aufmerksamkeit wohlmeinender Fremder auf sich.
Der leise Ärger des Sohnes wird zunächst von Sorge überlagert. Auf der Autoreise an die Küste Neuenglands aber beginnt ein Konflikt aufzubrechen, der viel darüber verrät, wie Männer mit Frauen, wie Mütter mit Söhnen sprechen, ein Konflikt, der nicht nur das Leben der beiden und ihr Verhältnis zueinander prägt. Davon erzählt Matthias Nawrat in sehr komischen, fein austarierten Szenen – von den Ansichten und Einsichten einer Reise nach Maine. Immer im Hintergrund: America the beautiful, der derangierte Sehnsuchtsort.
Pressestimmen
Unter der schimmernden Sprache liegen heimliche Abgründe. Wenn man sich am Ende fragt, ob überhaupt etwas passiert ist, merkt man, dass im Grunde alles passiert ist, was unter Menschen passieren kann.
Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 26. Juli 2021
Spektakulär unspektakulär, wie Matthias Nawrat auf etwas mehr als zweihundert Seiten diese schwierige Beziehung schildert, die Biografie der Mutter erzählt, Akademikerin in Polen, in Deutschland dann erst mal Putzfrau, beschreibt, wie der Icherzähler hin- und hergerissen zwischen Sorge und Ärger die Distanz mal vergrößert, dann verkleinert, und wie er dabei en passant Landschaft und Menschen porträtiert.
Augsburger Allgemeine Zeitung, 22. September 2021
Es sind die unter der Oberfläche liegenden, oft unausgesprochenen Emotionen, die diesen ruhig erzählten, mal nachdenklichen, mal unterhaltsamen Roman prägen: Die Reise von Mutter und Sohn ist auch ein Experiment einer Beziehung und ein Stück Selbsterkenntnis.
Eva Krafczyk, Aachener Zeitung, 6. September 2021
Ein wunderschönes, kluges und komisches Roadmovie über Mütter und Söhne.
Stern, 5. August 2021
Absurde Dialoge ... stille Vorwürfe ... sehr humorvoll und sehr präzise erzählt ... Das ist große Literatur.
Katrin Schumacher, MDR Kultur, 23. Juli 2021
Ein famoser Roman. Humorvoll und genau beschreibt er die ritualisierten Reibereien zwischen Mutter und Sohn und die Vergeblichkeit, aus ihren Rollen aussteigen zu können.
Andrea Gerk, NDR Kultur "Neue Bücher", 21. Juli 2021
Matthias Nawrat erzählt mit feinem Gespür von Lebensgeschichten, die man hinter sich lassen kann, um einen neuen Weg einzuschlagen ... Mit «Reise nach Maine» bestätigt er den ausgezeichneten Ruf, den er sich seit seinem Debüt 2012 erschrieben hat.
Claudia Cosmo, WDR 5 "Lesefrucht", 24. Juli 2021
Eckdaten
Nawrat, Matthias: Reise nach Maine: Roman. - Hamburg: Rowohlt, 2021.- ISBN 9783498002312
Quelle : Rowolth Verlag