Seminarkurs "Was ist Heimat?"

Dieses Jahr stellen sich 13 Schülerinnen und Schüler des Seminarkurses von Martin Gansen an der Johann-Friedrich-von-Cotta-Schule in Stuttgart die Frage „Was ist Heimat?“ Dabei begeben sie sich auf historische, politische und persönliche Spurensuche. Das HdH BW begleitet den Kurs und organisiert diverse Termine mit Einrichtungen und Personen, die sich auf professioneller und autobiografischer Ebene mit dem Thema „Heimat“ auseinandersetzen. Die facettenreichen Einblicke sollen den Schülerinnen und Schülern als Inspiration dienen, um sich mit den eigenen Wurzeln zu beschäftigen und eine individuelle Ausdrucksform dessen zu finden, was für sie persönlich Heimat bedeutet.

Lesung mit Renate Zöller
Am 14. Oktober 2022 schaltete sich die Osteuropa-Journalistin Renate Zöller online in den Klassenraum. Im Jahr 2017 hatte sie ein Buch mit dem Titel „Was ist eigentlich Heimat? Annäherung an ein Gefühl“ verfasst, dazu unterschiedliche Lebensgeschichten und auch individuelle Sichtweisen auf das Thema „Heimat“ zusammengetragen. Den Schülerinnen und Schülern berichtete sie zunächst, wie die Idee zum Buch entstand, gab Einblicke, wie sich die Bedeutung des Begriffs im Laufe der Zeit gewandelt hat, und las dann das Kapitel über Reinhard vor, der mit seiner Familie im jungen Alter aus Schlesien vertrieben worden vor und in Nordrhein-Westfalen ein neues Zuhause gefunden hat. Erst im fortgeschrittenem Alter keimte ein Interesse für den Ort seiner Kindheit in ihm auf. Als er ihn besuchte, war verständlicherweise nichts mehr, wie er es in Erinnerung behalten hatte. Eines aber ist für ihn klar: „Egal, wie viel sich verändert hat, die Luft in Schlesien bleibt immer dieselbe: Es duftet nach Heimat.“

Besuch beim Haus des Dokumentarfilms
Beim Besuch des Hauses des Dokumentarfilms am 11. November 2022 stellten Anna Leippe und Tobias Hartmann die Webseite „Daheim in der Fremde“ vor, auf der zahlreiche Filmbeiträge und Videos mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus unterschiedlichen Epochen das Ankommen in einer neuen Heimat thematisieren. Der amerikanische Kurzfilm „Give them hope“ aus dem Jahr 1947 zeigte eindrucksvolle Bilder vom zerstörten Deutschland und versetzte die Schülerinnen und Schüler in die Zeit, als unzählige Heimatvertriebene und „Displaced Persons“ nach dem Zweiten Weltkrieg in den Baracken auf der Schlotwiese in Stuttgart-Zuffenhausen untergebracht wurden. Im Jahr 1948 gründeten Mitglieder des Flüchtlingslagers die Baugenossenschaft „Neues Heim“. Ein Jahr später wurde der erste Wohnblock der neuen Siedlung Stuttgart-Rot eingeweiht.
Ein weiterer Dokumentarfilm, der 1997 gedreht wurde, stellte Menschen von der Schlotwiese und aus Stuttgart-Rot vor, vor allem Donauschwaben, die aus den Gebieten Slawonien, Syrmien, dem Banat und der Batschka nach Deutschland gekommen waren. Sie schilderten die Probleme und Hürden der Anfangszeit, und ihre Bemühungen, in der neuen Heimat Fuß zu fassen und gleichzeitig die mitgebrachten Traditionen weiterleben zu lassen.

Ausflug nach Stuttgart-Rot
Bei einem Besuch vor Ort, zwei Wochen später, machte sich die Gruppe mit dem dortigen Ausstellungsparcours und der App „ROTgeschichtenSEHEN“ vertraut: Die Jugendlichen erhielten über einen Briefkastenschlitz einen Überblick über die Fluchtroute der ersten Anwohnerinnen und Anwohner des Viertels, lernten Wörter aus deren Dialekt kennen, schlugen symbolisch mit einem Teppichklopfer Kakerlaken tot, betraten eine Wohnung, in der ein Fernsehgerät ein Gespräch mit der donauschwäbischen Zeitzeugin Eva Petto wiedergab, und konnten sich in einem stilechten Friseursalon in die 1950-er Jahre zurückversetzt fühlen. Geschichten der Bewohnerinnen und Bewohner in Vergangenheit und Gegenwart wurden auch über die an vielen Orten aufgestellten „Sprachrohre“ lebendig.
Martin Gebler von der Baugenossenschaft „Neues Heim“ erläuterte, dass die alten Gebäude auf dem Gelände bis zum Jahr 2027 durch ein neues Wohnquartier ersetzt werden, und veranschaulichte dieses an einem Modell. Die „Alteingesessenen“ sind bereits umgezogen, übergangsweise leben gerade Studentinnen und Studenten, Geflüchtete und Auszubildende in der Pflege in den Wohnungen.
Ob auf der Laborbühne, durch unterschiedliche Partizipationsangebote, mit Zeitkapseln oder Postkarten sind die Anwohnerinnen und Anwohner bewusst eingeladen, an der Gestaltung ihrer Heimat mitzuwirken.

Filmvorführung und Gespräch mit Holger Gutt
Wie kann die persönliche Suche nach Heimat aussehen und sich in einem künstlerischen Medium ausdrücken? Darauf geben ein Filmschaffender, eine Autorin, eine bildende Künstlerin, eine Musikerin, ein Theaterpädagoge und eine Theaterpädagogin sowie eine Journalistin Auskunft.
Den Anfang machte am 9. Dezember 2022 Holger Gutt, der die Schülerinnen und Schüler des Seminarkurses im HdH BW besuchte. Mit dabei hatte er seinen Dokumentarfilm „Sehnsucht nach einer unbekannten Heimat“. Der Kurs schaute sich den Film an, in dem sich Gutt auf Identitätssuche begibt. In der Nähe von München als Sohn von Rumäniendeutschen geboren, startet er nach dreißig Jahren zusammen mit seinem Vater einen Roadtrip zu seinen familiären Wurzeln nach Siebenbürgen. Fündig wird er dort nicht, kommt aber für sich zu dem Ergebnis, dass sich Heimat wie ein Puzzle aus unterschiedlichen Teilen zusammensetzt.
Die Schülerinnen und Schüler waren vor allem von den Gesprächen zwischen Holger Gutt und seinem Vater beeindruckt, die sich auf der Fahrt näherkommen und voneinander lernen. Mit seinen Fragen und Gedanken gab Gutt den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Seminarkurses Impulse, bei der eigenen Spurensuche möglicherweise Brücken zwischen Generationen und Kulturen zu bauen.
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