Seminarkurs "Was ist Heimat?"
13 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminarkurses von Martin Gansen an der Johann-Friedrich-von-Cotta-Schule in Stuttgart stellten sich im Schuljahr 2022/23 die Frage „Was ist Heimat?“ Dabei begaben sie sich auf historische, politische und persönliche Spurensuche. Das HdH BW begleitete den Kurs und organisierte diverse Termine mit Einrichtungen und Personen, die sich auf professioneller und autobiografischer Ebene mit dem Thema „Heimat“ auseinandersetzen.
Die facettenreichen Einblicke dienten den Schülerinnen und Schülern als Inspiration, um sich mit den eigenen Wurzeln zu beschäftigen und eine individuelle Ausdrucksform dessen zu finden, was für sie persönlich Heimat bedeutet.
2023
Zum Abschluss: Präsentationen und Film
Mit den Präsentationen der Seminararbeiten zu selbst gewählten Themen endete der Seminarkurs. Die Schülerinnen und Schüler haben sich mit der Zuwanderung von Gastarbeitern in den 1960er-Jahren aus unterschiedlichen Ländern, mit Traumata aufgrund von Flucht und Vertreibung, den Herausforderungen beim Finden oder Verlassen einer neuen Heimat beschäftigt. Dabei wurden in fast allen Fällen Familienangehörige, vor allem Großeltern oder Eltern, interviewt, und nie zuvor angesprochene Aspekte der Familienbiographien zu Tage gefördert. Die neu gewonnenen Erkenntnisse halfen den Jugendlichen einerseits, Verständnis für ihre Angehörigen zu entwickeln, andererseits aber auch, sich selbst besser verorten zu können.
Passend zum Schuljahresende ist jetzt auch der an zwei intensiven Theater-Workshop-Tagen entstandene Film zum Thema „Heimat“ fertig. Einen Einblick bietet der Trailer:
Der komplette Film kann auf der Homepage der Schule angeschaut werden.
Recherche in der Bibliothek im HdH BW
Nachdem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminarkurses im Laufe des Schuljahres viele unterschiedliche Impulse zur Auseinandersetzung mit „Heimat“ gesammelt haben, stehen sie nun vor der Aufgabe, eine Fragestellung zu formulieren, einen Zeitzeugen zu befragen und eine Seminararbeit zu verfassen. Dazu ist es nötig, die eigenen Ideen und die gewonnenen Ergebnisse mit Fachliteratur zu belegen. Doch wie findet man diese?
Am 17. März 2023 bekamen die Schülerinnen und Schüler eine Einführung in die Bibliothek des HdH BW. Nach welcher Systematik sind die Bücher sortiert? Was ist eine Signatur? Wie recherchiere ich im Online-Katalog? All diese Fragen beantwortete die Bibliothekarin Renate Deutschländer. Danach wurde der Kurs in Kleingruppen eingeteilt und anhand von Arbeitsblättern galt es, passende Bücher und Aufsätze zum Seminarkursthema „Heimat“ zu finden. Alle Werke wurden auf einem Tisch gesammelt. Die eine oder andere konnte sogar schon passende Titel für die Seminararbeit ausleihen und mit nach Hause nehmen.
Theater-Workshops im HdH BW
Nach Monaten des Sammelns an Informationen und des Kennenlernens unterschiedlicher Lebensläufe und deren Ausdruck in verschiedenen Medien, stand für die Schülerinnen und Schüler des Seminarkurses die Aufgabe im Raum, Heimat mit den Mitteln des Schauspiels auszudrücken. Wie ist es zum Beispiel, keine Heimat zu haben und wie kann eine „So-tun-als-ob-Erfahrung“ dargestellt werden? Angeleitet von dem Theaterpädagogen Manoel Tavares lernte der Kurs an zwei Tagen einige Techniken des Theaterspiels kennen: das Maskenspiel, das Statuen-Theater und das Forum-Theater.
Der erste Termin fand am 3. Februar 2023 im HdH BW statt. Zuerst ging es darum, mögliche Hemmungen abzubauen und sich als Gruppe zu finden, Bewegungsübungen und das Sprechen von kurzen Sätzen in unterschiedlicher Intonation sorgten schon bald für eine lockere Atmosphäre.
Als nächstes sollten jede Schülerin und jeder Schüler auf einer imaginären Bühne eine Geschichte erzählen, mit Aufgang, Spiel und Abgang, ohne dabei zu sprechen und Requisiten zu verwenden. Es wurde deutlich, wie wichtig Haltung, Mimik und Körpersprache sind und welche Assoziationen und Interpretationsmöglichkeiten entstehen können. Durch zusätzlich eingespielte Musik konnten dann Emotionen entweder verdeutlicht oder konterkariert werden.
Es folgte die Arbeit in Kleingruppen: Ausgestattet mit Voll-, Halbmasken, Perücken, Schnüren und Stiften bekam jede Gruppe den Auftrag, mittels der kennengelernten Techniken eine Szene über Heimat zu erzählen, sich an den zur Verfügung stehenden Requisiten zu bedienen und passende Musik auszuwählen.
Kurz vor Ende des ersten Projekttages präsentierten die Jugendlichen voreinander die Ergebnisse mit den vorläufigen Arbeitstiteln „Meine Heimat, deine Heimat oder ‚The King‘“, „Unterschiedliche Herkunft in der Vergangenheit, gemeinsame Zukunft in der Gegenwart“ und „Die Zugfahrt“ und bekamen Tipps und Hinweise aus der Gruppe, wie sie ihre Aussagen noch verbessern können. Situation
Der zweite Termin, am 10. Februar, startete wieder mit Auswärmübungen, bevor sich die Schülerinnen und Schüler in ihre Kleingruppen zurückzogen, um mit Unterstützung von Manoel Tavares weiter an ihren Szenen zu feilen. Außerdem sollte noch eine gemeinsame Abschlussszene mit allen Schülerinnen und Schülern und den Mitteln des Statuen-Theaters einstudiert werden. Hierfür wurde der Kurs in zwei Gruppen eingeteilt: Die erste befindet sich in der Ausgangssituation, die Heimat verlassen zu müssen, die zweite in der Rolle der Aufnahmegesellschaft. Jede Gruppe schuf zu ihrer Lage jeweils drei Standbilder. Immer abwechselnd wurde ein Standbild gezeigt, das eine Erzählerin bzw. ein Erzähler aus jeder Gruppe – wie im Forum-Theater üblich – besprach.
Zügig entstand mit farbigen Klebestreifen ein passendes Bühnenbild zum Thema Heimat: Häuser und Wurzeln, die ein Zuhause symbolisieren. Dann kam der Kameramann und alle Darstellerinnen und Darsteller wurden mit Mikrophonen verkabelt. Nach jeweils zwei Durchläufen waren die drei Szenen der Kleingruppen sowie die große Gruppenszene im Kasten. Das Ergebnis ist bald hier zu sehen.
Heimat und Theater
Die Theaterpädagogin Rebekka Bareith von der Deutschen Bühne Ungarn in Szekszárd besuchte am 27. Januar 2023 den Seminarkurs in Stuttgart. Seit vier Jahren lebt sie in Ungarn, in Deutschland hat sie, Tochter einer in Ungarn geborenen Mutter, sich nie zu Hause gefühlt. Um ein Heimatgefühl zu haben, braucht sie einen Ort, an dem sie was bewegen kann. Den hat sie bei der Deutschen Bühne Ungarn gefunden.
Zum Einstieg gab Bareith den Schülerinnen und Schülern einen Abriss über die Geschichte der deutschen Minderheit in Ungarn, dann stellte sie die internationale Zusammensetzung und Tätigkeiten des deutschsprachigen Theaters vor. Zu seinen Hauptaufgaben gehört die Förderung und Vermittlung der deutschen Sprache und die Wahrung der kulturellen Werte der deutschen Minderheit. Mit den teils klassischen, teils selbstgeschriebenen Stücken für alle Altersgruppen – für die Kleinen auch zweisprachig –, ist das Ensemble in ganz Ungarn und mitunter im Ausland unterwegs.
Bareith hob das Stück „Schweres Gepäck“ hervor, ein szenischer Audio-Spaziergang, der anhand einer fiktiven ungarndeutschen Familie das Leben und Schicksal der Vertriebenen vorstellt. Es bringt einen Teil der Geschichte in die Gegenwart und bietet die Möglichkeit, daran anzuknüpfen, denn auch heute leiden Millionen Menschen darunter, ihre Heimat verlassen zu müssen. Abschließend betonte Bareith, dass auch Theater Heimat sein kann, sei es durch die verwendete Sprache oder durch bestimmte thematische Inhalte, wie bei dem Stück „Schweres Gepäck“, das Identitätsgeschichte auf die Bühne bringt.
Heimat in Kunst und Musik
Über Videokonferenz aus Berlin zugeschaltet, startete die Sängerin Helena Goldt am 20. Januar 2023 mit der Vorstellung ihrer Person und ihres künstlerischen Werdegangs. In Kasachstan geboren, kam sie im Alter von sechs Jahren nach Deutschland. Für Goldt ein Kulturschock auf mehreren Ebenen: Die Familie kam von einer großen Stadt aufs Land, mit der „konservierten“ deutschen Sprache fielen sie auf und der Vater konnte seinen Beruf als Ingenieur nicht weiter ausüben. Alle Hoffnungen wurden auf die Kinder und deren Zukunft gesetzt. Sie sollten es besser haben und berühmt werden. Unterstützt von ihren Eltern, studierte Helena Goldt nach dem Abitur Operngesang und entwickelte im Laufe der Zeit das Interesse, biographische Konzerte zu geben, ihre Geschichte musikalisch zu erzählen. Dazu begab sie sich zunächst auf Spurensuche und förderte alte Lieder ihrer Großmutter zu Tage, die ihr als Inspirationsquelle dienten.
Helena Goldt sieht sich heute als Kulturbotschafterin, die die russlanddeutsche Kulturgeschichte durch das Medium Musik vermitteln möchte. Sie richtet sich nicht nur an Personen mit ähnlichen Erfahrungen, sondern möchte ein breites Publikum erreichen. Mit Videos von Konzerten, Aufritten und Interviews gab sie einen Einblick in ihre Arbeit vor und auch hinter der Bühne. Auf die Frage eines Schülers, was für sie persönlich Heimat bedeutet, antwortete Helena Goldt: „Neben typischem Essen aus meiner Kindheit und meiner Muttersprache vor allem auch, sich auf Identitätssuche zu begeben und mittlerweile auch das interkulturelle Umfeld in meiner Wahlheimat Berlin.“
Im zweiten Teil vor Ort lies Lisa Harms die Schülerinnen und Schüler an ihrer Familiengeschichte und ihrem Weg zur Künstlerin teilhaben. In Sibirien geboren, kam sie als Kind Anfang der 1990er-Jahre mit ihrer Familie nach Deutschland. Während der Kindheit und Jugend hatte sie sich oft „anders“ gefühlt, ohne genau beschreiben zu können, warum. Dem Gefühl ist sie weiter nachgegangen und hat über Recherchen und Ahnenforschung die eigene Familiengeschichte rekonstruiert.
Ihre Großeltern hatten immer wenig erzählt, wollten die Vergangenheit ruhen lassen und sich in erster Linie der neuen Umgebung anpassen. Über Archive und Internetforen fand Lisa Harms heraus, dass ihre Vorfahren vor über 250 Jahren dem Ruf Katharinas der Großen gefolgt und ins Russische Reich ausgewandert waren. Ihre Familie kehrte dann vor 30 Jahren genau dahin zurück, von wo aus ihre Vorfahren aufgebrochen waren: in die Nähe von Karlsruhe. Diese Erkenntnis beschreibt Lisa Harms als Initialzündung, die sie zum Malen gebracht hat.
Wenn sie malt, sind Erde und Wasser die zentralen Elemente. Ganz unbewusst und intuitiv entstehen im Schaffensprozess Landschaften auf der Leinwand, die sie nie persönlich gesehen hat, die sie aber in ihrem genetischen Gedächtnis vermutet, denn sie erinnern an die Landschaften an der Wolga, wo ihre Vorfahren zu Hause waren.
Mit der Kunst, die für Lisa Harms Hobby und kein Beruf ist, möchte sie Orte der Erinnerung schaffen und das Abwesende anwesend machen. Mehrfach hatten ihre Vorfahren die Heimat verlassen, hatten keine Worte für das, was sie nicht mitnehmen konnten. Harms sagt: „Kunst fängt da an, wo Worte aufhören.“ Sie selbst sieht sich noch am Anfang ihrer Reise, möchte, sobald es möglich ist, auf derselben Route wie einst ihre Ahnen an die Wolga und nach Sibirien reisen, von dort Naturmaterialien wie Erde, Sand, getrocknete Pflanzen und Wasser mitnehmen, die dann in einem Kunstwerk weiterleben. Für Lisa Harms ist Heimat vieles und doch ist sie noch immer auf der Suche.
Den Schülerinnen und Schülern gab sie zum Abschluss mit auf den Weg: „Wir sind alle Teil von Geschichte. Stellt Fragen, hört hin und hört in euch hinein.“
Heimat und Sprache. Komplexe und instabile Zuschreibungen
Am 13. Januar 2023 besuchte die Sprachwissenschaftlerin Dr. Katharina Dück den Seminarkurs im HdH BW in Stuttgart. Sie gab Einblicke in ihre Arbeit am Leibniz-Institut für deutsche Sprache in Mannheim, wo sie vor allem zu Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit, Minderheitensprachen unter Beteiligung des Deutschen sowie Herkunftssprache und Identität forscht.
Zum Einstieg bat sie die Schülerinnen und Schüler, auf Mentimeter Begriffe zu sammeln, die für sie „Heimat“ und „Sprache“ beschreiben. Familie, Freunde, Menschen, Austausch, Verständnis und Verständigung wurden genannt.
Anhand dieser Beschreibungen führte Katharina Dück den Terminus „Identität“ ein und lud zum Nachdenken ein: Was bestimmt uns? Wie hängen Sprache und Identität zusammen? Welchen Einfluss hat Mehrsprachigkeit auf unsere Persönlichkeit?
Alle waren sich einig, dass sowohl Herkunft als auch Sprache wichtige einheitsstiftende Merkmale sind. Sprache ist die Voraussetzung für verbale Interaktion mit anderen Menschen und Medium zur Identifikation der eignen Person. Mittels Sprache werden soziale Beziehungen aufgebaut und Werte vermittelt. Mehrsprachigkeit kann demzufolge sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf den Identitätsaufbau haben. Sie ermöglicht einerseits den Austausch innerhalb der Gruppe, andererseits aber auch die Abgrenzung von anderen Gruppen. Für die eigene Person kann Mehrsprachigkeit in Bezug auf Heimat als positiv empfunden werden, wenn sie die eigene Unabhängigkeit erweitert, als negativ hingegen, wenn sie ein Gefühl der Zerrissenheit zwischen zwei oder mehreren Identitäten und Heimaten hervorruft. Dück führte dazu Beispiele in Form von Zitaten aus ihren Feldforschungen mit deutschsprachigen Personen, die aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland migriert sind an, die nach Deutschland zurückgekehrt sind.
Zum Abschluss fertigten die Schülerinnen und Schule sogenannte Sprachenportraits an und lokalisierten mit unterschiedlichen Farbstiften ihre Sprachkenntnisse, darunter Albanisch, Serbisch, Italienisch, Russisch, Ukrainisch, Rumänisch, Türkisch, Deutsch und Schwäbisch, im Körper einer Person. Sie kamen für sich zu dem Ergebnis, dass Sprache Verbindung schafft, ja eine positive Erweiterung der Persönlichkeit bedeutet.
2022
Filmvorführung und Gespräch mit Holger Gutt
Wie kann die persönliche Suche nach Heimat aussehen und sich in einem künstlerischen Medium ausdrücken? Darauf geben ein Filmschaffender, eine Autorin, eine bildende Künstlerin, eine Musikerin, ein Theaterpädagoge und eine Theaterpädagogin sowie eine Journalistin Auskunft.
Den Anfang machte am 9. Dezember 2022 Holger Gutt, der die Schülerinnen und Schüler des Seminarkurses im HdH BW besuchte. Mit dabei hatte er seinen Dokumentarfilm „Sehnsucht nach einer unbekannten Heimat“. Der Kurs schaute sich den Film an, in dem sich Gutt auf Identitätssuche begibt. In der Nähe von München als Sohn von Rumäniendeutschen geboren, startet er nach dreißig Jahren zusammen mit seinem Vater einen Roadtrip zu seinen familiären Wurzeln nach Siebenbürgen. Fündig wird er dort nicht, kommt aber für sich zu dem Ergebnis, dass sich Heimat wie ein Puzzle aus unterschiedlichen Teilen zusammensetzt.
Die Schülerinnen und Schüler waren vor allem von den Gesprächen zwischen Holger Gutt und seinem Vater beeindruckt, die sich auf der Fahrt näherkommen und voneinander lernen. Mit seinen Fragen und Gedanken gab Gutt den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Seminarkurses Impulse, bei der eigenen Spurensuche möglicherweise Brücken zwischen Generationen und Kulturen zu bauen.
Besuch beim Haus des Dokumentarfilms
Beim Besuch des Hauses des Dokumentarfilms am 11. November 2022 stellten Anna Leippe und Tobias Hartmann die Webseite „Daheim in der Fremde“ vor, auf der zahlreiche Filmbeiträge und Videos mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus unterschiedlichen Epochen das Ankommen in einer neuen Heimat thematisieren. Der amerikanische Kurzfilm „Give them hope“ aus dem Jahr 1947 zeigte eindrucksvolle Bilder vom zerstörten Deutschland und versetzte die Schülerinnen und Schüler in die Zeit, als unzählige Heimatvertriebene und „Displaced Persons“ nach dem Zweiten Weltkrieg in den Baracken auf der Schlotwiese in Stuttgart-Zuffenhausen untergebracht wurden. Im Jahr 1948 gründeten Mitglieder des Flüchtlingslagers die Baugenossenschaft „Neues Heim“. Ein Jahr später wurde der erste Wohnblock der neuen Siedlung Stuttgart-Rot eingeweiht.
Ein weiterer Dokumentarfilm, der 1997 gedreht wurde, stellte Menschen von der Schlotwiese und aus Stuttgart-Rot vor, vor allem Donauschwaben, die aus den Gebieten Slawonien, Syrmien, dem Banat und der Batschka nach Deutschland gekommen waren. Sie schilderten die Probleme und Hürden der Anfangszeit, und ihre Bemühungen, in der neuen Heimat Fuß zu fassen und gleichzeitig die mitgebrachten Traditionen weiterleben zu lassen.
Ausflug nach Stuttgart-Rot
Bei einem Besuch vor Ort, zwei Wochen später, machte sich die Gruppe mit dem dortigen Ausstellungsparcours und der App „ROTgeschichtenSEHEN“ vertraut: Die Jugendlichen erhielten über einen Briefkastenschlitz einen Überblick über die Fluchtroute der ersten Anwohnerinnen und Anwohner des Viertels, lernten Wörter aus deren Dialekt kennen, schlugen symbolisch mit einem Teppichklopfer Kakerlaken tot, betraten eine Wohnung, in der ein Fernsehgerät ein Gespräch mit der donauschwäbischen Zeitzeugin Eva Petto wiedergab, und konnten sich in einem stilechten Friseursalon in die 1950-er Jahre zurückversetzt fühlen. Geschichten der Bewohnerinnen und Bewohner in Vergangenheit und Gegenwart wurden auch über die an vielen Orten aufgestellten „Sprachrohre“ lebendig.
Martin Gebler von der Baugenossenschaft „Neues Heim“ erläuterte, dass die alten Gebäude auf dem Gelände bis zum Jahr 2027 durch ein neues Wohnquartier ersetzt werden, und veranschaulichte dieses an einem Modell. Die „Alteingesessenen“ sind bereits umgezogen, übergangsweise leben gerade Studentinnen und Studenten, Geflüchtete und Auszubildende in der Pflege in den Wohnungen.
Ob auf der Laborbühne, durch unterschiedliche Partizipationsangebote, mit Zeitkapseln oder Postkarten sind die Anwohnerinnen und Anwohner bewusst eingeladen, an der Gestaltung ihrer Heimat mitzuwirken.
Lesung mit Renate Zöller
Am 14. Oktober 2022 schaltete sich die Osteuropa-Journalistin Renate Zöller online in den Klassenraum. Im Jahr 2017 hatte sie ein Buch mit dem Titel „Was ist eigentlich Heimat? Annäherung an ein Gefühl“ verfasst, dazu unterschiedliche Lebensgeschichten und auch individuelle Sichtweisen auf das Thema „Heimat“ zusammengetragen. Den Schülerinnen und Schülern berichtete sie zunächst, wie die Idee zum Buch entstand, gab Einblicke, wie sich die Bedeutung des Begriffs im Laufe der Zeit gewandelt hat, und las dann das Kapitel über Reinhard vor, der mit seiner Familie im jungen Alter aus Schlesien vertrieben worden vor und in Nordrhein-Westfalen ein neues Zuhause gefunden hat. Erst im fortgeschrittenem Alter keimte ein Interesse für den Ort seiner Kindheit in ihm auf. Als er ihn besuchte, war verständlicherweise nichts mehr, wie er es in Erinnerung behalten hatte. Eines aber ist für ihn klar: „Egal, wie viel sich verändert hat, die Luft in Schlesien bleibt immer dieselbe: Es duftet nach Heimat.“
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