Wieso zerfallen multiethnische Staaten?
...Am Beispiel Jugoslawien
Bereits zum fünften Mal kooperiert das HdH BW mit der Johann-Friedrich-von-Cotta-Schule Stuttgart. Im Schuljahr 2023/24 beschäftigen sich 17 Schülerinnen und Schüler in dem von Martin Gansen geleiteten Seminarkurs mit dem Thema „Wieso zerfallen multiethnische Staaten? Am Beispiel Jugoslawien“.
Mehrere außerschulische Termine werden im Laufe des Schuljahres vom HdH BW organisiert:
9. Februar 2024 - Workshop
Natalija Ribovic, gebürtig in Neusatz/Novi Sad, lebt und arbeitet als Künstlerin in Augsburg.
In ihrem dreistündigen Workshop „Miteinander“ erzählte sie den Schülerinnen und Schülern des Seminarkurses zunächst ihre persönliche Lebensgeschichte, berichtete dabei von ihrer Geburtsstadt Neusatz/Novi Sad und der Region Vojvodina, in der 21 Minderheiten leben und zeigte auf, wie sie den Weg in die Kunst gefunden hat.
Für einen praktischen Teil stellte Ribovic zunächst Brücken unterschiedlicher Epochen weltweit anhand von Bildmaterial vor und diskutierte mit den Schülerinnen und Schüler über die symbolische Bedeutung von Brücken: Offenheit, Dialog, Toleranz, Respekt. Dann waren die Jugendlichen gefordert, selbst kreativ tätig zu werden und in Gruppenarbeit Brücken aus Strohhalmen, Seilen, Schaumstoffkugeln und anderen Materialien zu bauen.
Die Botschaft, die über die Brücken transportiert werden soll, wurden im Anschluss im Plenum präsentiert.
26. Januar 2024
Dr. Lana Mayer, Leiterin von Europe Direct Stuttgart, besuchte den Seminarkurs im HdH BW und sprach vor allem von ihren ganz persönlichen Erfahrungen in Vukovar, als der Krieg ausbrach. Eindrücklich schilderte sie, dass sich für sie als 12-jähriges Mädchen Anfang der 1990er-Jahren nie die Frage nach einer ethnischen Identität gestellt hatte. Dann plötzlich musste sich die Familie sieben Tage im Keller verstecken, bis sie schließlich nach Deutschland zu Bekannten fliehen konnte. Sechs Jahre lebte Mayer in Nordrhein-Westfalen, dann kehrte die Familie wieder zurück nach Vukovar. Unterricht wurde in Schichten organisiert, für kroatische und für serbische Schülerinnen und Schüler, die sich nicht begegnen sollten. Misstrauen wurde weiter aufgebaut.
Heute sieht sich Mayer vor allem als Vermittlerin, die Einblicke in die kroatische und in die deutsche Kultur hat. Sie munterte die Schülerinnen und Schüler auf, sich auch selbst als solche zu sehen und ihre Chance zu nutzen, im Juni das erste Mal wählen gehen zu können.
12. Januar 2024
Žsolt Papišta aus Neusatz/Novi Sad schaltete sich am 12. Januar per Videokonferenz in das Klassenzimmer des Seminarkurses in Stuttgart. Als Angehöriger der ungarischen Minderheit, aufgewachsen in einem von Donauschwaben geprägten Dorf, mit einem Großvater, der als Gastarbeiter eine Zeitlang in Deutschland lebte, war ihm die deutsche Sprache nie fremd. Papišta selbst bezeichnet sich als „Fernsehkind“, denn vor allem das deutsche Fernsehen trug dazu bei, dass er leicht Deutsch lernte und später sogar Germanistik studierte. Heute lehrt er als Dozent am Lehrstuhl für Germanistik und ist als Journalist bei der Redaktion des Radio- und Fernsehsenders RTV Vojvodina für die deutsche Minderheit tätig.
Anhand einer Studie aus dem Jahr 2015, die den Umgang mit den Kriegen der 1990er-Jahre in serbischen Lehrbüchern analysiert, referierte Papišta, dass darin nur oberflächlich und wenig objektiv berichtet wird. Aus eigener Erfahrung erinnert er sich, dass aufgrund von Zeitmangel das Thema nur gestreift wurde.
Die aktuelle Situation in seinem Land sieht Papišta schwierig, dennoch möchte er in Serbien bleiben und nicht, wie viele seiner Altersgenossen, auswandern.
17. November 2023
Referentin Helena Fetter informierte die Schülerinnen und Schüler im Rahmen ihres Seminarkurses über „Gedenk- und Erinnerungskultur“. Was ist tatsächlich Erinnerung, was weiß man von Fotos? Wie erinnern wir individuell, familiär, kollektiv und gesellschaftlich?
Anhand eines Videos wurde Grundlegendes über die Entstehung von Erinnerungen, das Kurz- und Langzeitgedächtnis sowie die Bedeutung von Sinnen und Emotionen vermittelt. Erinnerungen werden jedes Mal, wenn sie erinnert werden, neu geschaffen. Je enger sie mit Sinnen und Emotionen verknüpft sind, desto einfacher werden sie gespeichert. Eigene und fremde Erinnerungen greifen auf unterschiedliche Ebenen im Gehirn zurück. Ein kollektives Gedächtnis beruht auf gemeinsamem Erleben, beeinflusst von Herkunft, Sprache und Umgebung. Erinnerungen können präsent sein, sich verändern, verschwinden und zum Schutz verdrängt werden. Vergessen ist manchmal überlebenswichtig.
Im zweiten Teil waren die Schülerinnen und Schüler gefragt: Wie erinnert ihr individuell, in der Familie, kollektiv, wie erinnern und gedenken wir gesellschaftlich? Gibt es bestimmte Narrative, wird geschwiegen, werden bestimmte Bräuche oder Rituale zelebriert? Was spricht euch an, was nicht? Wie wollt ihr zukünftig erinnern und gedenken? In Kleingruppen dachten sie darüber nach, als Anregung dienten ihnen thematisch passende Texte und Graphic Novels. Bei der anschließenden Präsentation der Ergebnisse stellte sich heraus, dass oft Erinnerungsstücke wie Fotos oder Gegenstände als Gedankenstützen funktionieren, ebenso Dokumentationen im Fernsehen.
Die im Workshop gewonnenen Erkenntnisse werden für die weitere Arbeit des Seminarkurses mit einbezogen werden, wenn es darum geht, Aussagen von Zeitzeugen einzuschätzen.
Als Hausaufgabe bekamen die Schülerinnen und Schüler auf, einen Brief an sich selbst zu schreiben und darin Erinnern und Gedenken zu reflektieren. Der Brief wird von der Schule eine Woche vor der mündlichen Prüfung versendet und kann dort mit einbezogen werden.
10. November 2023
Der Integrationsbeauftragte der Stadt Stuttgart, Gari Pavković, besuchte den Seminarkurs im HdH BW, um über „Postjugoslawische Identitäten“ zu sprechen. Dabei gab er auch Einblicke in seinen persönlichen und beruflichen Erfahrungsschatz.
Pavković zeigte, dass die Stabilität von Staaten und der Zusammenhalt der Bevölkerung von unterschiedlichen Faktoren abhängen. Jugoslawien unter Tito verstand sich als Föderation von Völkern und „Völkerschaften“. Stabilisierend, so Pavković, wirkten nach dem Zweiten Weltkrieg etwa Bildungsoffensiven, v. a. für Frauen, zunehmende Industrialisierung und eine Öffnung gegenüber dem Westen. Als „spaltend“ bewertete Pavković in den 1970er-Jahren nationale Autonomie-Bewegungen, in den 1980er-Jahren die wachsende Wirtschaftskrise. Die Intoleranz gegenüber nationalen Minderheiten wuchs. Eine friedliche Auflösung der Föderation habe nicht funktioniert, da v. a. Serbien und Kroatien ihre Territorialherrschaft ausweiten wollten.
Nach dem Zerfall des Landes mussten alle jugoslawischen Staatsangehörige eine neue Staatsbürgerschaft annehmen. Zugehörigkeiten wurden neu definiert: über das Abstammungs- oder das Geburtslandprinzip, über ähnliche Sprache. Auch die religiöse Herkunft spielte bei der Frage der Volkszugehörigkeit eine Rolle.Pavković machte deutlich, dass Doppel- und Mehrfachidentitäten in multiethnischen Staaten mit dem Geburtslandprinzip üblich sind, wie beispielsweise bei Afroamerikanern oder Italo-Argentiniern. In Deutschland herrscht das Abstammungsprinzip: Ein in Deutschland geborenes Kind türkischer Eltern wird als Deutschtürke und nicht als Türkdeutscher bezeichnet.
Am Beispiel berühmter Persönlichkeiten sollten die Schülerinnen und Schüler schließlich eine Einschätzung abgeben: War Nikola Tesla Serbe, Kroate oder US-Amerikaner? Ivo Andrić kroatischer, bosnisch-kroatischer oder serbischer Schriftsteller? Über sich selbst sagt Gari Pavković, er sei Deutscher bosnisch-kroatischer Herkunft.
In Stuttgart leben aktuell über 30.000 Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien, jene mit deutscher Staatsangehörigkeit nicht mitgerechnet. Der Umgang mit Vielfalt bleibt eine Herausforderung, nicht nur auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, so das Fazit nach der Diskussion.
6. Oktober 2023
Zum Auftakt des Seminarkurses referierte PD Dr. Daniela Simon vom Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Tübingen über ihr Forschungsgebiet: „Vielfalt und Transformationsprozesse“.
Nach einem kurzen Abriss über die Entstehungsgeschichte Jugoslawiens und damit einhergehende Gründungsmythen stand der dortige Umgang mit Minderheiten im Mittelpunkt von Überlegungen: Wurde die jugoslawische Multikulturalität nach dem Zweiten Weltkrieg als etwas Positives gewertet, änderte sich dies in den 1980er-Jahren. Der Wunsch nach Heterogenität wuchs, schließlich setzten 1991 Kriegshandlungen ein, die unzählige Todesopfer forderten. Jugoslawien zerfiel in mehrere kleinere Staaten, die ihrerseits von starkem Nationalismus geprägt waren und heute noch sind.
Die Ausführungen von Daniela Simon machten deutlich, dass Diversität und Vielfalt je nach (zeitlichem) Kontext unterschiedlich bewertet werden, je nachdem, welche „Kategorien“ gerade als wichtig angesehen werden.
Zur weiteren Diskussion gab Simon den Schülerinnen und Schülern Fragen mit auf den Weg:
- Kann es eine Gesellschaft ohne Diversität geben?
- Wie wird die Vielfalt sichtbar gemacht? Welche Kategorien in unserer Gesellschaft kennen Sie?
- Sind die Unterschiede in der Gesellschaft „natürlich“ oder von Menschen gemacht?
- Was können Gründe für die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Gruppen in einer Gesellschaft sein?
- Was sind mögliche Gründe für das Anwachsen der Diversität?
In der Nachbereitung setzte sich der Kurs mit der Beantwortung auseinander.
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