50 Jahre Schülerwettbewerb
Der Wettbewerb „Die Deutschen und ihre Nachbarn im Osten“:
Der Inbegriff interkulturellen (Geschichts-)Lernens?
Dem Anderen in Geschichte und Gegenwart immer wieder aufs Neue mit Interesse und Neugierde zu begegnen – darin liegt ein zentraler Anspruch des Schülerwettbewerbs „Die Deutschen und ihre Nachbarn im Osten“. Indem ein Perspektivwechsel vollzogen und eine multiperspektivische Betrachtungsweise angestrebt wird, ermöglicht der Wettbewerb einen diversitätssensiblen Zugriff auf Vergangenheit und Gegenwart.
Das östliche Europa – doch eher ein fremder Gegenstand?
Ein grundsätzliches Ziel des Schülerwettbewerbs liegt darin, „auf die Jahrhunderte alte Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa hinzuweisen, gemeinsame ‘europäische’ Wurzeln zu entdecken, ein lebendiges und aktuelles Bild von Ost(mittel)europa zu vermitteln“. Dadurch bietet sich Jugendlichen die eher seltene Gelegenheit, sich eingehender mit ost(mittel)europäischer Geschichte, die ansonsten noch eher ein Nischendasein führt, zu beschäftigen, eine oftmals vorherrschende westeuropäische Perspektive aufzubrechen sowie sich der komplexen ostmitteleuropäischen Verflechtungen – insbesondere auch auf regionaler Ebene – bewusst zu werden. Dabei können einerseits europäische Gemeinsamkeiten und Verbindungslinien herausgestellt werden, andererseits wird aber auch der Blick auf Ausgrenzungen und kulturell bedingte Konflikte gelenkt.
Die interkulturelle Ausrichtung des Schülerwettbewerbs – in mehrerlei Hinsicht
- Interkulturelle Schlüsselthemen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Wettbewerbsaufgaben: Die Jugendlichen setzen sich mit Migration, Heimat(en), Grenzräumen, kulturellen Vernetzungen, hybriden Identitätsentwürfen, Prozessen des „Othering“ und pluralistisch gestalteten Erinnerungskulturen auseinander. Dabei erkennen sie, dass diese Themenbereiche existenzielle Fragen menschlichen Zusammenlebens aufwerfen und ihnen kulturübergreifende Mechanismen – und damit eine transkulturelle Dimension – innewohnen.
- Beim thematischen Zuschnitt der Projektthemen geht es um die Interaktion und die Interdependenz von europäischen Kulturen, aber auch um Vergleiche ähnlicher Phänomene in unterschiedlichen Regionen Europas; dadurch gelingt es, nationale Perspektiven aufzubrechen.
- Der Wettbewerb, der im einjährigen Turnus stattfindet und im Rhythmus von zwei Jahren grenzüberschreitend mit einem Partnerland durchgeführt wird, kann gezielt auf gesellschaftliche und kulturelle Herausforderungen unserer globalisierten Gegenwart und damit auf konkrete Orientierungsbedürfnisse der Jugendlichen eingehen. Historisch ausgerichteten Themenstellungen liegt in der Regel ein starker Gegenwartsbezug zugrunde. Dadurch ist eine Relevanz für das Hier und Jetzt der Jugendlichen gewährleistet.
- Globalgeschichtlich relevante Phänomene werden oftmals mit einer lokalen Brille betrachtet – konstanter Bezugspunkt ist Baden-Württemberg. Makro- und Mikrogeschichte werden dabei wechselseitig zueinander in Beziehung gesetzt.
- Kreative, handlungs- und produktorientierte Arbeitsaufträge befördern eine Perspektivenübernahme und leiten zu einem bewussten Akt des „Umperspektivierens“ hin: Schülerinnen und Schüler verfassen beispielsweise einen Tagebucheintrag oder einen Brief, entwerfen eine Rede bzw. gestalten eine Reportage, einen Blog oder eine Theaterszene.
- Interkulturelle Kontakte „aus erster Hand“ erfahren die Jugendlichen im Rahmen der Preisträgerreise, aber auch bei Rechercheaufträgen, die authentische Begegnungen ermöglichen.
- Wo immer es möglich ist, wird die kulturell heterogene Schülerschaft, wie wir sie in deutschen Klassenzimmern vorfinden, z.B. in Form von Interviews mit Mitschülerinnen und Mitschülern oder mit Familienangehörigen berücksichtigt und für den Wettbewerb fruchtbar gemacht.
Eine diversitätssensible Betrachtungsweise als Sprungbrett für Urteilsbildung?
Durch einen derart gestalteten methodisch-didaktischen Zuschnitt der Wettbewerbsaufgaben können Schülerinnen und Schüler – ganz im Sinne des interkulturellen Lernens und des Diversity-Ansatzes – Lebenswelten als Produkte interkultureller Verflechtungen verstehen, mit Kontroversität umgehen und kulturelle Vielfalt als Bereicherung wahrnehmen. Sie erfahren, dass sich Individuen durch Mehrfachzugehörigkeiten auszeichnen, und lernen eine Vielzahl an Identitätsangeboten und Handlungsoptionen kennen. Dabei zeigt sich: Eine strikte Trennung zwischen dem Eigenen und dem Fremden ist kaum möglich.
Die Jugendlichen werden aber auch zu einer Selbstreflexion angestoßen, wodurch sie ihrer eigenen Standortbezogenheit bewusst werden und ihren eigenen Standpunkt kritisch reflektieren können. All diese Faktoren sind Voraussetzung dafür, sich ein eigenständiges Urteil bilden und als mündiger Bürger am historisch-politischen Diskurs einer Gesellschaft teilhaben zu können.
Elisabeth Gentner
Lehrerin und Schulbuchautorin