Von der Dampfnudel zum Volksfest mit Kochwettbewerb
Ethnografen beobachten und analysieren Bräuche, dazu gehört der Jahreskreis der Feste. Csilla Schell vom IKDE in Freiburg bereiste nach der politischen Wende ab 1990 Ungarn, um festzuhalten, wie dort „kulturelle Räume neu besetzt“ wurden: Die teilweise „kulturelle Gleichschaltung“ während des Sozialismus, die staatlichen Regulierungen waren aufgehoben. Es herrschte aus ethnografischer Sicht eine „Schwellensituation mit freien Räumen“, eine große Zahl neuer regionaler Feste entstand, man kann von einem „Festivalisierungs-Boom“ sprechen. Spannend dabei: wie an alte Traditionen angeknüpft, diese aber zugleich verändert und aktualisiert worden sind.
In ihrem reich bebilderten Vortrag stellte Csilla Schell eine Vielzahl an Beispielen vor, folgte dabei grob dem Jahreslauf: Vom Faschingsbrauch des „Hühnerschlagens“ in Moha, heute als immaterielles Kulturerbe ausgezeichnet, über das Gerichtsspiel in Sajónémeti bis zum Fischsuppenfest in Baja, bei dem nur Männer am Kochwettbewerb teilnehmen, und dem Stiffolder-Fest in Feked, bei dem alles um die beliebte spezielle Wurst geht. Sie beobachtete, wie Springerstiefel mit alter Tracht kombiniert werden, wie industriell produzierte Lebensmittel die bäuerlichen Erzeugnisse ersetzen – und auch, wie aus authentischem, einem Ritus folgenden Feiern eine reine Inszenierung für Medien wird. Heute, in einem „Facebook-Ungarn“, seien ethnografische Untersuchungen mit Interview und Kamera in dieser Form, mit dieser Fragestellung, kaum mehr möglich.
Veranstaltungs-Info
Die Wenden in den ostmitteleuropäischen Ländern um 1990 wandelten neben grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Veränderungen auch den Jahreskreis der Feste der Menschen um. Was nach der Abschaffung des sozialistischen Festkalenders hereinbrach, wird oft als ‚Festivalisierungs-Boom‘ bezeichnet.
Die Ethnografen am Institut für Kulturanalyse der Deutschen des östlichen Europa (IKDE) in Freiburg beobachteten und untersuchten diesen spannenden kulturellen Aushandlungsprozess der deutsch-ungarischen Lokalkultur mit offenen Augen. Sie fragten danach, welche neuen lokalen Feste, Festivitäten und lokalen Bräuche in diesen knapp 40 Jahren entstanden oder neu aufgegriffen wurden. Welche ‚neuen Traditionen‘ sind ‚erfunden‘ und, gut vermarktet, inzwischen vielleicht sogar zur Lokalmarke geworden?
Der Vortrag von Dr. Csilla Schell bietet Einblicke in die neue, bunte lokale Fest- und Brauchkultur Ungarns. Er wird durch Fotografien aus der Feldforschung der Referentin bereichert.
Im Begleitprogramm der Ausstellung REVIVAL(S). Kulturelle Neubelebungen in Transdanubien
In Kooperation mit dem Institut für Kulturanalyse der Deutschen des östlichen Europa (IKDE)
Der Eintritt ist frei.
Einlass bis zum Erreichen der höchstzulässigen Besucherzahl
Der Veranstaltungssaal ist nicht barrierefrei.
Dr. Csilla Schell hat in Budapest und Freiburg Germanistik, Volkskunde und Musikwissenschaft studiert. Sie ist Mitarbeiterin am IKDE Freiburg mit den Arbeitsschwerpunkten „Deutsche Kultur in Ungarn: Multiethnische Kulturpraktiken“, „Populare Schriftkultur: Briefe“ sowie „Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente in Relation der Integration der Vertriebenen“.