Traumata nach Krieg, Flucht und Vertreibung: "Kinder unter Deck"

Die Dokumentarfilmerin Bettina Henkel befragt ihren Vater zu dessen Mutter, ihre Kamera zeichnet die sehr persönlichen Gespräche auf. Die Großmutter, die Erinnerung an sie hat die Familie geprägt. Bettina Henkels Film ist ein Beispiel dafür, wie die Aufarbeitung einer über Generationen weitergegebenen Traumatisierung gelingen kann.
Unterschiedliche Filmmaterialien (auch alte Super 8-Aufnahmen), gliedernde Stilmittel (Zeichnungen gewinnen Farbe, dann Bewegung), wechselnde Perspektiven: Nach der Filmvorführung im Atelier am Bollwerk beschrieb Bettina Henkel im Gespräch mit Susanne Benda, wie sie die verschiedenen Zeitebenen verband, den Film strukturierte, um drei Geschichten dreier Generationen zu erzählen: Die Großmutter, Ärztin in Riga, wurde als Deutschbaltin in den „Reichsgau Wartheland“ im deutsch besetzten Polen umgesiedelt und dort zur Gutsherrin erklärt, flüchtete nach dem Zweiten Weltkrieg in die britische Zone und lebte dann, luxuriös, auf den Kanarischen Inseln. Ihr Sohn, ebenfalls Arzt, später Psychoanalytiker, wirft ihr unreflektierte NS-Mitläuferschaft vor, die „Verblendung“, das Profitieren von Nazigräueltaten, geht voller Wut in die Konfrontation und sorgt für Familienstreit. Die Enkelin Bettina Henkel vermisst in der Kindheit seine Nähe, bewundert das Bild der Großmutter als charismatischer Grande Dame.
Im Film machen sich Sohn und Enkelin gemeinsam auf eine Reise, die dem Lebensweg der Großmutter folgt. Dabei erhält Bettina Henkels Vater, seine Aufarbeitung der Erinnerung an seine Mutter, viel Raum. Seine Verletzungen werden, auch für das Publikum schmerzhaft, sichtbar – mutig die Öffnung von ihm, mutig die Aufzeichnung durch die Tochter. „Ich mache das für Dich“, sagt er, später Bettina Henkel selbst: „Als du geweint hast, war meine Trauer weg.“ Aus dem Publikum am Ende der Diskussion die Meinung: wichtig, dass die Existenz solcher weitergegebenen Verletzungen zunehmend öffentlich gemacht wird, gerade durch künstlerische Verarbeitungen.
Veranstaltungs-Info
Mittwoch, 5. April 2023, 18:00 Uhr, Kino Atelier am Bollwerk
Bettina Henkel: Kinder unter Deck. Filmvorführung und Gespräch
Kinder unter Deck ist die persönliche Geschichte dreier Generationen einer Familie: Großmutter, Vater und Tochter – Ärztin, Psychoanalytiker und Filmemacherin. Im Zentrum steht die transgenerationale Übertragung traumatischer Erfahrungen, denen auf einer Reise zu den Wurzeln der aus Lettland stammenden Familie nachgespürt wird. Vater und Tochter verfolgen die Schicksale der Familienmitglieder, suchen „Antworten“ auf schmerzliche Fragen und die „Wahrheit“ einer verdrängten Geschichte. Wie weh das tun würde, wusste vorher niemand. Bettina Henkels Dokumentarfilm ist ein seelisches Roadmovie durch tiefliegende Verletzungen, entstanden durch die historischen Umwälzungen im Nordosten Europas. Eine universelle Geschichte der Vererbung von seelischen Narben, verursacht durch Krieg und verdrängtes Leid.
Nach der Filmvorführung unterhält sich die Journalistin Susanne Benda mit der Regisseurin Bettina Henkel.
Bettina Henkel lebt und arbeitet in Wien. An der Akademie der Bildenden Künste Wien leitet sie das Medienlabor und Forschungslabor Film & Fernsehen. Nach einer Tanzausbildung studierte sie Kunstgeschichte in München, Malerei in Nürnberg und visuelle Mediengestaltung an der Universität für Angewandte Kunst in Wien bei Peter Weibel.
Susanne Benda hat Germanistik, Musik- und Theaterwissenschaften in Würzburg und München studiert. Als Kulturjournalistin war sie freiberuflich für verschiedene Tageszeitungen, den Rundfunk und Fachzeitschriften tätig, später als Kulturredakteurin bei den Stuttgarter Nachrichten und der Stuttgarter Zeitung.
Kinder unter Deck, Dokumentarfilm, AT 2018, 90 Min., FSK 12
Der Eintritt ist frei.
Atelier am Bollwerk
Hohe Straße 26
70176 Stuttgart
Stadtbahn Haltestelle Berliner Platz/Hohe Straße U2, U14, U34. Haltestelle Berliner Platz/Liederhalle U4, U14, U29.
S-Bahn Haltestelle Stadtmitte S1 bis S6