Manès Sperber – ein europäischer Denker
Er werde keinen wissenschaftlichen Vortrag halten, kündigte der emeritierte Professor für Kulturwissenschaften, Wolfgang Müller-Funk, zu Beginn der Veranstaltung im HdH BW an. Er wolle zum Nachdenken anregen und auf die Lektüre der Texte von Manès Sperber hinwirken. Was ihm gemeinsam mit Johannes Wördemann zweifellos gelang.
Johannes Wördemann las Passagen aus mehreren Werken, im Anschluss kommentierte Müller-Funk jeweils, das „Radio-Feature“ diente als Formatvorlage. Drei Themenbereiche wurden dabei von beiden angesprochen: Manès Sperbers Biografie, seine Gedanken zum Judentum, speziell auch zu Hannah Arendts Überlegungen zum Eichmann-Prozess, und schließlich seine Auseinandersetzung mit autoritären Ideologien, seine „Analyse der Tyrannis“. Müller-Funk, Präsident der Manès-Sperber-Gesellschaft und Mitherausgeber der jüngsten Auswahlausgabe von Sperbers Werken, zeigte sein beeindruckendes Hintergrundwissen. Seine Anmerkungen ordneten kulturhistorisch ein, stellten Bezüge zur Zeitgeschichte her, wiesen auch auf die literarischen Qualitäten von Sperbers Texten hin. Und sie betonten und belegten immer wieder die Aktualität der Reflexionen und „Gedankengebäude“. Sperbers „Experimentalfigur“ (Müller-Funk) „Herr X“ ist ein „kleiner Mann, der so dringlich nach dem Gipfel strebt“, ein Schwacher, der sich erst durch die Identifikation mit dem Starken selbst mächtig fühlt. Als Individualpsychologe, geprägt von den Theorien Alfred Adlers und vom Marxismus, analysiert Sperber die Tyrannis als „prekäre Form der Kompensation“, kindliche Anerkennungssucht spielt eine Rolle. Da liegen aktuelle Fragen zum Geschlechterverhältnis nahe, sind Ansätze zu finden, auf politische Entwicklungen in den USA, in Russland usw. zu schauen, der überall präsente Begriff des Narzissmus steht im Raum… weiterdenken!
Veranstaltungs-Info
Manès Sperber, geboren 1905 in Galizien als Sohn einer jüdischen Familie, gestorben 1984 in Paris, Altösterreicher, Franzose und Europäer: Er gehört nicht nur zu den bedeutendsten Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts. Er hat auch ein gewichtiges literarisches und theoretisches Werk hinterlassen, das es neu zu entdecken gilt. Die jüngsten politischen Krisen, die Wiederkehr autoritärer politischer Bewegungen in demokratisch verfassten Gesellschaften und die Renaissance antisemitischen Denkens verleihen den Texten dieses hochkarätigen Denkers eine erstaunliche Aktualität.
Wichtige Werke wie die Romantrilogie »Wie eine Träne im Ozean«, die Autobiographie »All das Vergangene« und seine theoretisch-essayistischen Texte, darunter seine Studie zur Tyrannis, sind jüngst in einer dreibändigen Auswahlausgabe des Sonderzahl-Verlags in Wien erschienen. Wolfgang Müller-Funk, Mitherausgeber der Ausgabe, konzentriert sich in seinem Vortrag auf drei Themenbereiche: Auf Sperbers bemerkenswerte Biographie, sein Verständnis des Judentums und der Shoah sowie seine Analyse autoritärer Regime und Ideologien. Johannes Wördemann liest jeweils entsprechende Passagen aus Sperbers Werk.
Dr. Wolfgang Müller-Funk ist Literaturwissenschaftler, Kulturphilosoph, Lyriker und Essayist. Er war Professor u. a. an der University of Birmingham (Großbritannien) und der Universität Wien. Wichtige Werke: »Theorien des Fremden« (2016), »12 Kapitel zu einer Diskursgeschichte der Grausamkeit« (2022) sowie »Grenzen. Ein Versuch über den Menschen« (2025). Seine Bücher und Aufsätze sind in mehrere Sprachen übersetzt worden.
Johannes Wördemann, Stimm- und Kommunikationsexperte, hat Sprechkunst an der HMDK Stuttgart studiert. Er arbeitet für den SWR, ist dort auch stellvertretender Chefsprecher des Sprecherteams, und tritt deutschlandweit als Veranstaltungsmoderator, Keynote Speaker und bei Lesungen auf.
Im Rahmen der Jüdischen Kulturwochen Stuttgart
Der Eintritt ist frei.
Einlass bis zum Erreichen der höchstzulässigen Besucherzahl
Der Veranstaltungssaal ist nicht barrierefrei.