Nur der Himmel blieb derselbe. Ostpreußens Hungerkinder erzählen vom Überleben
Überlebensstrategie: Unsichtbar sein
Im Rahmen der Forschungen für seine Doktorarbeit hat Christopher Spatz mehr als 50 Interviews mit heute in Deutschland lebenden „Wolfskindern“ geführt. Für viele von ihnen war es das erste Mal, dass sie über ihr Schicksal berichteten.
Die Hungerkatastrophe nach Ende des Zweiten Weltkriegs forderte im ehemaligen Ostpreußen eine extrem hohe Zahl an Menschenleben. Um die Dimension zu verdeutlichen, zitierte der Bremer Historiker und Autor zu Beginn seines Vortrags Quellen, die von 100.000 Toten unter den insgesamt 200.000 dort verbliebenen Deutschen sprechen. Kinder, die zu Waisen wurden, gehören zu den lange vergessenen Leidtragenden.
Von den mehreren tausend Kriegswaisen kamen viele in sowjetische Heime, viele machten sich über die neu gezogene nordöstliche Staatsgrenze auf den Weg nach Litauen. Christopher Spatz analysierte die Überlebensstrategien, die die Kinder dabei entwickelten. Sich in Gruppen zu organisieren war auf der Suche nach Essen und Schlafplatz hinderlich, die Loslösung von Schicksalsgenossen hilfreich. So verschwand das Bewusstsein für Gemeinschaften. „Verstecken – Anpassen – Unsichtbar machen“ – dieses Verhalten ermöglichte das Überleben, „Herkunft und Identität“ wurden eingetauscht gegen „Brot und Schlafplatz“, so Spatz.
Noch bis in die 1990er-Jahre wanderten „Wolfskinder“ nach Deutschland aus. Ihre „Erinnerungseinsamkeit“ – es gab keine Erzählungen und keine Fotografien über ihr Schicksal – brach 1989/90 auf, als historische Orte zugänglich wurden. Auch der Begriff „Wolfskinder“, dessen erste Verwendung Spatz 1991 in den deutschen Medien verortete, trug mit seinen Konnotationen, seiner Emotionalität zur neuen Erzählbarkeit bei. Die Betroffenen selbst, so die Erfahrungen des Autors, stellen sich nicht als Teil von „Opfergeschichten“ dar. Ihr Ausdauervermögen, ihre Beharrlichkeit und Stärke haben ihr Überleben ermöglicht. Für die Heilung seelischer Wunden, die Aufarbeitung von Traumata, sind das Sprechen über ihr Schicksal und die gesellschaftliche Würdigung wichtig.
Veranstaltungs-Info
Vortrag von Dr. Christopher Spatz
Der Bremer Historiker und Autor Christopher Spatz recherchierte das Leben der damaligen Waisenkinder und besuchte sie. In Interviews erzählten ihm die zwischen 1930 und 1942 Geborenen, wie sie das Unmögliche schafften und überlebten. Manche landeten in sowjetischen Heimen, andere flohen auf eigene Faust nach Litauen, um ihr Leben zu retten. Was erlebten damals Vier- und Sechsjährige in den Heimen? Wie bewältigten Acht- und Zehnjährige den Weg in ein fremdes Land, ohne Mutter, Zielort und Sprachkenntnisse? Welche Erfahrungen sammelten sie beim Betteln?
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Der Eintritt ist kostenfrei.
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Ausstellung und Bibliothek sind bis 17:45 Uhr geöffnet.