Lodz/Łódź: Geschichte einer multikulturellen Industriestadt im 20. Jahrhundert

Die im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie zur Stadtgeschichte Lodz/Łódź von Hans-Jürgen Bömelburg ist die einzig Existierende. Warum sich der genaue Blick auf die Metropole lohnt, beschrieb der Osteuropa-Historiker im HdH BW.
Bömelburgs Augenmerk liegt auf der Entwicklung der Stadt im 19. und 20. Jahrhundert. In seinem Vortrag stellte er sie als „Paradebeispiel europäischer Multikulturalität“ vor. Hier lebten Polinnen und Deutsche, Russinnen und Juden. Gesprochen wurde, vereinfacht, auf dem Amt russisch, in der Fabrik deutsch, auf der Straße polnisch. Zu einer „Stadt der Migrantinnen und Migranten“ wurde sie wegen der dort angesiedelten, seit der Mechanisierung global agierenden Textilindustrie. Schon die Stadtplanung macht die Dominanz des Industriezweigs deutlich: Ausgewiesen in Plänen wurden Parzellen, die in Zuschnitt und Größe den Bedürfnissen der Weber entsprachen. Die Arbeitersiedlung, die um die Textilfabrik Scheibler (die Besitzerfamilie hat Wurzeln in der Eifel) entstand, war die größte in Europa. Mehr als 50% der in dieser Industrie Beschäftigten waren Frauen, schlecht bezahlt, ohne Schutz vor Kündigung in einer extrem konjunkturabhängigen Branche – Lodz wurde zum Zentrum der polnischen Arbeiterbewegung.
Bömelburg riss viele der vorhandenen Konfliktpotenziale, auf die seine Studie anhand zahlreicher Quellen eingeht, kurz an: Trennlinien innerhalb der Arbeiterbewegung (sozialistisch versus nationalistisch), die Abhängigkeit der Produzenten einerseits vom großen russischen Absatzmarkt, die Orientierung andererseits an westlichen Innovationen, das enorme Wohlstandsgefälle innerhalb der Stadtbevölkerung, die Wohnungsnot. Seine These: Die Konflikte entstanden entlang sozialer Trennlinien und wurden seit den 1930er-Jahren zunehmend national gelesen. Was kann man durch den Blick auf diese Kapitel Stadtgeschichte „lernen“? Multikulturalität hat eine Chance, wenn ein Interesse an Zusammenarbeit besteht und Mehrsprachigkeit gelebt wird. Sie ist aber permanent gefährdet durch Angriffe von Demagogen und muss verteidigt werden.
Veranstaltungsinformation

Hans-Jürgen Bömelburg gibt in seinem Vortrag Einblick in seine im vergangenen Herbst bei Ferdinand Schöningh erschienene Studie. In ihr erzählt er die Geschichte von Lodz/Łódź, der zweitgrößten polnischen Stadt des 19./20. Jahrhunderts, aus multikultureller und vielsprachiger Perspektive. Die Stadt ist historisch durch die Textilindustrie geprägt. Ihr Aufstieg war die Leistung von deutschen, jüdischen, polnischen und russischen Wirtschaftsbürgern und oft in prekären Verhältnissen lebenden, vor allem weiblichen Arbeitskräften in den Fabriken. Diese kosmopolitische Bevölkerung bestimmte das Gesicht von Lodz als einer "Stadt der vier Kulturen". Das Buch zeigt aber auch, wie die Einwohnerschaft in den 1930er-Jahren in nationale Gruppen aufgespalten und wie die Stadt während des 2. Weltkriegs als deutsch besetztes "Litzmannstadt" von innen zerstört wurde. Vertreibung und Diskriminierung nach 1945 vernichteten multikulturelle Restbestände. Im kommunistischen Polen besaß die Textilindustrie keine Lobby und ging auch in Lodz in den 1990er-Jahren unter.
Prof. Dr. Hans-Jürgen Bömelburg hat die Professur für Ostmitteleuropäische Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen inne.
Der Eintritt ist frei.
Der Veranstaltungsraum ist nicht barrierefrei. Einlass bis zur höchstzulässigen Besucherzahl.