»Eine ganz andere, herrliche, riesige Welt«
Das Hörspiel ist eine Kunstform, die im und für den Rundfunk entstanden ist. Aktuell verliert sie im Radio immer weiter an Sendezeit – hat aber eine treue Fangemeinde. In den 1950er-Jahren trugen die Arbeiten des Deutschbalten Fred von Hoerschelmann enorm zur Popularisierung dieses Genres bei.
Dr. Hagen Schäfer umriss in seinem Vortrag die Geschichte des Hörspiels in Deutschland, von seinen Anfängen bis zur Entstehung des Neuen Hörspiels in den 1970er-Jahren. Aufnahmen von Produktionen verdeutlichten dabei seine Darstellungen. Hörspiele wurden live gesendet, die Aufzeichnung auf Wachsplatte von Hoerschelmanns „Flucht vor der Freiheit“, ausgestrahlt im Sommer 1931 in Königsberg, ist eine Rarität. Schon in seinen ersten Arbeiten wird klar, worum es dem Autor geht: Er schreibt nicht „lyrisch-traumhaft“ (wie Günter Eich), sondern „realistische Problemhörspiele“. Schäfer skizzierte Hoerschelmanns spezielle Dramaturgie: Die Exposition führt knapp die Figuren ein, kurze Szenen konzentrieren sich auf den Kern der Geschichte. Die Handlung entwickelt sich dabei nur über Monologe und Dialoge, es gibt keine Erzähler. Schäfer: „Der Fokus liegt auf dem allgemein Menschlichen.“ In „Die verschlossene Tür“, im März 1952 im Süddeutschen Rundfunk Stuttgart erstgesendet, versteckt ein Umgesiedelter (Hoerschelmann selbst wurde aus Estland in den polnischen Warthegau umgesiedelt) trotz höchster Gefahr für sich selbst einen Juden bei sich, aus Mitleid mit dem „unglücklichen alten Mann“. 1961 kritisiert Hoerschelmann in „Dichter Nebel“ eine egoistische, morbide Wohlstandsgesellschaft.
Mit dem Erfolg des experimentellen, mit Sprache, Geräusch und Ton spielenden Neuen Hörspiels (im HdH BW zu hören: Ein Ausschnitt aus Ernst Jandls und Friederike Mayröckers „Fünf Mann Menschen“) verlor Hoerschelmann an Bedeutung, galt als konventionell. Aber sein berühmtes „Das Schiff Esperanza“, auch im SDR Stuttgart 1953 erstgesendet, wurde jahrzehntelang und wird teilweise weiterhin von Schulklassen gelesen.
Veranstaltungs-Info
Fred von Hoerschelmann, ein Pionier des Hörspiels in Deutschland
Trotz der Dominanz von Film und Fernsehen hat sich das Hörspiel einen festen Platz in der Publikumsgunst bewahrt und neue Hörerkreise erobert. In diesem eigenen literarischen Genre spielt die Fantasie des Hörers auf dessen »innerer Bühne« nach, was der Autor erfand und das Studio produzierte. Zu den Pionieren dieser Kunstform gehört seit den Anfängen des Radios der deutschbaltische Autor Fred von Hoerschelmann (1901-1976). Er schrieb rund 30 eigene Hörspiele und etwa 50 Funkbearbeitungen nach Stoffen anderer Autoren, u. a. von Werfel, Tolstoj, Dostojewski, Balzac, Simenon und Lorca. Sein Hörspiel »Das Schiff Esperanza« (1953) galt lange Zeit als das berühmteste deutsche Hörspiel.
Dr. Hagen Schäfer stellt die spannenden Anfänge des Hörspiels in Deutschland und das Funkwerk Hoerschelmanns vor, der für die einen ein »imponierender Außenseiter«, für andere ein »unübertroffener Meister«, ein »Romancier des Radios« war. Schäfer erforschte in seiner Dissertation Leben und Werk Fred von Hoerschelmanns, gab 2019 die kommentierte Werkausgabe des Hörspielautors und 2021 dessen Briefwechsel mit Elisabeth Noelle-Neumann mit heraus.
Der Eintritt ist frei.
Der Veranstaltungssaal ist nicht barrierefrei. Einlass bis zum Erreichen der höchstzulässigen Besucherzahl.
In der Veranstaltungsreihe „Auf Empfang! 100 Jahre Rundfunk“
Mit einem Gongschlag und der Ansage «Achtung! Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin, im Vox Haus. Auf Welle 400 Meter» begann am 29. Oktober 1923 um 20 Uhr der regelmäßige Rundfunkbetrieb in Deutschland. Die erste Sendung brachte Kompositionen u. a. von Mozart, Beethoven und Mendelssohn zu Gehör – teils von Schellack-Platten eingespielt, teils live von Musikern aufgeführt.
Anfangs hatten nur wenige hundert Deutsche einen Radio-Empfänger und die behördliche Lizenz zum Zuhören. Trotzdem gingen weitere Rundfunksender, u. a. in Stuttgart, auf Sendung. Im Mai 1924 kam die Schlesische Funkstunde in Breslau hinzu, im Juni 1924 der Sender Königsberg des Ostmarken-Rundfunks. Das junge Medium wuchs rasant, brachte Stars und neue Formate wie das Hörspiel und Live-Reportagen hervor. Die Nationalsozialisten nutzten den Rundfunk ganz für ihre Propaganda, das Radio wurde endgültig zum Massenmedium. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand unter Aufsicht der Alliierten eine neue Rundfunkstruktur mit Kultur- und Bildungsauftrag.
Das Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg beleuchtet in seiner Veranstaltungsreihe besondere Aspekte der deutschen Rundfunkgeschichte.
Die nächsten Veranstaltungen:
28.11.2024
Rundfunk in der Diktatur. Das Radio im Nationalsozialismus
Podiumsgespräch mit Dr. Jens-Uwe Völmecke, Alfred Fassbind und Michael Seil
11.12.2024
Das Königsberger Streichquartett
Konzert mit Einführungsvortrag. Mit Dr. Klaus Harer. Musik: Sarah Wieck (1. Violine), Miriam Röhm-Wieck (Violine), Emanuel Wieck (Viola), Ofer Canetti (Violoncello)