Blumen und Brandsätze

Eine deutsche Geschichte 1989–2023
Der Historiker Klaus Neumann, lange Zeit Inhaber einer Professur in Australien, ist Autor mehrerer prämierter Bücher über Asyl- und Flüchtlingspolitik. Seine neueste Veröffentlichung nimmt anhand zweier Fallstudien die Entwicklungen in Deutschland von 1989 bis 2023 in den Blick.
Klaus Neumann möchte aufräumen mit Klischeevorstellungen, Vereinfachungen – und letztlich mit der Vorstellung, dass es für komplexe Probleme simple, schnelle Lösungen gibt. In seinem Vortrag setzte er, bewusst provokant, Kontraste. Im vermeintlich durchweg fremdenfeindlichen deutschen Osten gab es in den frühen 1990er-Jahren (Hoyerswerda!) durchaus besonnene Stimmen von konservativen Trägern öffentlicher Ämter, die zum friedlichen Miteinander aufriefen, die Initiativen gegen Fremdenhass unterstützten. Dagegen analysiert er in seiner Fallstudie aus dem noblen Hamburg-Blankenese Stimmungsmache gegen einen Wohncontainerbau für Flüchtlinge.
Verschiebungen im Diskurs bereiten für Klaus Neumann den Boden dafür, dass ganz aktuell der Eindruck entstehen könne, Geschichte laufe in einer „Dauerschleife“ ab. Im deutschen Westen sei schon vor der Wende von einer „Asylschwemme“, von der „Überschreitung der Sozialverträglichkeit“ gesprochen worden. Formulierungen in der aktuellen politischen Debatte bezeichnet er als „grob fahrlässige Übertreibungen“.
Warum werden Geflüchtete immer wieder zu Zielscheiben kollektiver Schuldzuschreibungen? Neumann nennt drei Faktoren: In instabilen, beunruhigenden Zeiten eignen sich Fremde als Sündenbock für die Einheit suchende Mehrheitsgesellschaft; die anachronistische Idee des Nationalstaats hat nichts mehr mit der globalisierten Realität zu tun; schließlich das gesellschaftliche „Phänomen der Gleichgültigkeit“, des Wegschauens, wenn Schwächere drangsaliert werden.
Das Publikum im Vortragssaal der Württembergischen Landesbibliothek fragte nach Lösungen. Als seriöser Wissenschaftler kann Klaus Neumann keine einfache Antwort geben. Er gab die Warnung vor einem aktuellen „toxischen Diskurs“ mit auf den Nachhauseweg – und auch die unbequeme Frage gerade an diejenigen Bürgerinnen und Bürger, die sich als Teil der „Willkommenskultur“ verstehen, wie sie mit anderen als bloßen legalistischen Begründungen für die Aufnahme Schutzsuchender in Deutschland argumentieren können.
Veranstaltungs-Info

Spätestens seit den 1980er Jahren erregt kaum etwas die Öffentlichkeit so sehr wie die Frage, wie viele und welche Menschen, »die wir nicht gerufen haben«, Deutschland aufnehmen sollte. Klaus Neumann beschäftigt sich mit Antworten auf diese Frage: von Forderungen nach der Änderung von Artikel 16 des Grundgesetzes in den frühen 1990er Jahren über die sogenannte Willkommenskultur 2015 bis zur Neuauflage der Behauptung, das Boot sei voll, nach der Ankunft von Flüchtlingen aus der Ukraine 2022.
Der Historiker untersucht die unterschiedlichen Motivationen, Schutz zu gewähren oder Schutzsuchende abzuweisen. Im Mittelpunkt seiner Betrachtung stehen dabei lokale und lokalpolitische Auseinandersetzungen: im Westen Hamburgs und im südöstlichen Sachsen. Er macht anschaulich, wie sehr Aushandlungsprozesse um die lokale Aufnahme von DDR-Übersiedlern und Asylsuchenden, Aussiedlerinnen und Kriegsflüchtlingen verquickt waren mit Debatten über Rassismus und Rechtsextremismus, demokratische Teilhabe sowie west- und ostdeutsche Identitäten.
Klaus Neumanns Buch »Blumen und Brandsätze. Eine deutsche Geschichte, 1989–2023« erlaubt neue Einblicke in dreieinhalb Jahrzehnte deutscher Geschichte. Zugleich ist es ein Plädoyer für eine umfassende und gut informierte Debatte über die Frage, warum Deutschland Schutzsuchende aufnehmen sollte.

Prof. Dr. Klaus Neumann (Hamburg) ist Historiker und Kulturwissenschaftler. Er zog 1985 nach Australien, um dort mit einer Arbeit über Geschichte und Geschichten in Papua-Neuguinea zu promovieren, und war bis vor kurzem Professor für Geschichte in Melbourne.
Der Eintritt ist frei.
Teilnahme vor Ort in der Württembergischen Landesbibliothek, Saal (Konrad-Adenauer-Str. 10, 70173 Stuttgart) oder online über den Zugangslink: https://bitbw.webex.com/meet/wlb
Im Rahmen der Reihe »Vorträge zur Zeitgeschichte«
Eine Veranstaltung in Zusammenarbeit mit der Bibliothek für Zeitgeschichte