Irene Langemann: Das Gedächtnis der Töchter

Warum schreibt eine erfolgreiche, prämierte Dokumentarfilmerin einen Roman? Die Kulturredakteurin Katharina Borchardt sprach mit Irene Langemann über ihr literarisches Debüt, das inzwischen ebenfalls ausgezeichnet worden ist.
Für eine Familiengeschichte, die über zweihundert Jahre nachverfolgt wird, sei der Roman die einzig passende Form, so Langemann: Hier lasse sich die Vielstimmig- und Vielschichtigkeit, die ihr beim Erzählen wichtig sei, realisieren. Zehn Jahre habe sie an Das Gedächtnis der Töchter gearbeitet, den Abschluss habe sie als „Befreiung“ empfunden. 60 bis 70 Prozent des Textes seien Fiktion, der Rest autobiografisch. Ausgangspunkt seien die Erinnerungen ihrer Mutter gewesen, zentral für Langemann besonders das Schicksal ihrer Großmutter. Sie erlebt, als Nachfahrin einer mennonitischen Familie, die 1804 von Westpreußen aus nach Südrussland, in das Gebiet der heutigen Südostukraine, auswanderte, die Deportation in die Steppe Kasachstans, extremen Hunger und Kälte, kommt auf erschütternde Weise ums Leben. Sie solle und müsse in Erinnerung bleiben, nicht nur in den mündlichen Erzählungen von Langemanns Mutter. Sechs Frauen stehen im Zentrum des Romans, Frauen haben die tatsächliche Familiengeschichte überliefert – aus dem Publikum kam in der anschließenden Diskussion die Anmerkung, dass die „schweigenden Männer“ in unterschiedlichsten Zusammenhängen der Familienforschung, der Verarbeitung von Traumata wahrgenommen werden. War und ist Erinnerungsarbeit eine Frauensache? Warum?
Veranstaltungs-Info

Eine Kleinstadt in Sibirien, 1969. Eisige Kälte. Die elfjährige Vera wird von ihren Mitschülern angegriffen und als Faschistin beschimpft. Tief gedemütigt begibt das Mädchen sich auf die Suche nach ihren Wurzeln. Als ihre Mutter sie in die Familiengeschichte einweiht, beginnt für Vera eine Reise in die Vergangenheit. Ihre Vorfahren, strenggläubige Mennoniten, sind Anfang des 19. Jahrhunderts aus Westpreußen nach Russland ausgewandert. Vera erfährt die Geschichte ihrer Familie über sechs Generationen: Vom bescheidenen Wohlstand der frommen Kolonisten in der Zarenzeit über existenzielle Not und Diskriminierung in der Sowjetdiktatur bis hin zu den idyllischen Sommern an der Küste Georgiens in den 1970er-Jahren.
»Das Gedächtnis der Töchter« ist die Chronik einer deutschen Familie, die versucht, in Russland Wurzeln zu schlagen. Ein Roman über das Suchen nach Identität in der Fremde, über die vielen Facetten von Einsamkeit und die immer neu zu schöpfende Kraft, sie zu überwinden.
Lesung und Gespräch mit Irene Langemann und Katharina Borchardt (Moderation)
Irene Langemann wurde 1959 in Issilkul (Sibirien) geboren und wuchs zweisprachig in einer deutschen Familie auf. Sie studierte in Moskau Schauspielkunst und Germanistik. 1990 wanderte sie nach Deutschland aus, lebt seitdem in Köln und arbeitet als Autorin und Regisseurin. Ihre Dokumentarfilme wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet.
Katharina Borchardt ist Literaturredakteurin und Moderatorin bei SWR Kultur. Außerdem arbeitet sie als freie Literaturkritikerin und ist Mitglied verschiedener Preisjurys.
Der Eintritt ist frei.
Der Veranstaltungssaal ist nicht barrierefrei.
Einlass bis zum Erreichen der höchstzulässigen Besucherzahl.