Neugelesen - Literarische Fundstücke:
Die Rebellion
„Gibt es überhaupt noch eine Gerechtigkeit in der Welt?“
Da knallen sie in der Straßenbahn aufeinander, der arme Kriegsinvalide Pum und der armselige, in seiner Ehre verletzte Biedermann Arnold. In der Lesung von Joseph Roths Die Rebellion inszenierten Michael Speer und Simon Fallert, wie dieser unglückliche Zufall für den schwächeren von beiden in den Untergang führt.
Michael Speer wählte als Leseeinstieg ein Kapitel von beklemmender Aktualität. Wenn Joseph Roth den „gesunden, satten und dennoch unzufriedenen“ Herrn Arnold damit einführt, wie er seine junge Angestellte sexuell belästigt, dann sind heutige LeserInnen mitten in der Me-Too-Debatte über Machtstrukturen und Geschlechterbeziehungen. Und so brandaktuell geht es weiter: Herr Arnold in seiner Aufgeregtheit findet überall Verschwörungen von Lügnern um sich herum, Andreas Pum in seiner Aufgeregtheit wütet chancenlos und unbedacht – und beide fühlen sie sich ungerecht behandelt. Joseph Roth: „Des Menschen Gedanken sind schneller als die Blitze und ein empörtes Gehirn kann wohl in einer halben Minute eine ganze Revolution gebären.“
Simon Fallert am Klavier drehorgelte zu Beginn der Lesung die schönen Volkslieder und die Nationalhymne, die zu Beginn des Romans Andreas Pum am Leierkasten die Existenz absichern. Immer wieder tauchten die Motive im Laufe des Abends auf, zunehmend zerhackstückt, disharmonisch, am Ende wie Pistolenschüsse und reine Kakofonie. Die Rebellion der Machtlosen findet bei Joseph Roth unter Toilettenwärtern und Papageien oder als zorniger Monolog im Himmel statt – keine Hoffnung. Dank Michael Speer und Simon Fallert unbedingt ein „literarisches Fundstück“.
Veranstaltungs-Info
Andreas Pum ist Kriegsinvalide und bestreitet mithilfe einer Lizenz zum Leierkastenspielen seinen Lebensunterhalt. Ein kleiner Streit in der Straßenbahn bringt ihn ins Gefängnis und damit beginnt die Rebellion eines kleinen Mannes, der dem Land als Soldat alles gegeben hat und nicht akzeptieren kann, dass ihm nun alles genommen wird.
Neben der Sozial- und Systemkritik besticht Joseph Roths Roman einerseits durch eine sehr klare Sprache und andererseits durch eine poetische und hochemotionale Beschreibung seelischer Bewegungen.
Michael Speer liest aus der 2019 erschienenen Neuveröffentlichung des Romans, die wiedergefundene, zusätzliche Manuskriptseiten enthält.
Lesung: Prof. Michael Speer, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart
Klavier/Orgel: Simon Fallert
Der Eintritt ist frei.
Einlass bis zum Erreichen der höchstzulässigen Besucherzahl.
Die Veranstaltungsräume sind nicht barrierefrei.
Eine Lesung im Rahmen der Veranstaltungsreihe Neugelesen - Literarische Fundstücke:
Mehr als 70.000 Neuerscheinungen fluten jährlich den deutschen Buchmarkt. Da verschwinden ältere Werke schnell in versteckten Regalreihen. Ein Fehler. Es kann sich lohnen, sie wieder, neu oder endlich! zu lesen. Das HdH BW lädt ein zum Ausgraben und Entdecken, zur neuen Sicht, zum Wiederfinden verloren gegangener moderner Klassiker.
Die Reihe wird fortgesetzt: Dienstag, 7.7.2020, Eduard von Keyserling: Wellen. Lesung mit Barbara Stoll.