Sehnsucht nach der Ukraine

Die vergessene Ukraine
Die Werke der ukrainischen Komponisten Mykola Lysenko, Vasyl Barvinsky und Viktor Kosenko, alle geboren im 19. Jahrhundert, stehen in Westeuropa so gut wie nie auf den Konzertprogrammen. Zu Unrecht – das vermittelt die Pianistin Violina Petrychenko mit Leidenschaft und Überzeugung.
Sie begann ihr Konzert im HdH BW mit der traurig-elegischen Klaviermusik von Mykola Lysenko, der im Russischen Zarenreich geboren wurde. Viele Künstler, nicht nur im östlichen Europa, waren damals auf der Suche nach ihrer nationalen Identität, auch Lysenko trug mit seiner Musik zu einer ukrainischen Nationalbewegung bei. Als „melancholisch“ charakterisierte Petrychenko seinen Klang – Ausdruck einer Wehmut und Sehnsucht, die Petrychenko mit Ironie als „ukrainische Krankheit“ bezeichnete.
Vasyl Barvinsky (1888-1963) geboren als Bürger der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, durchlebte als Leiter des Konservatoriums in Lemberg einen aberwitzigen Wechsel an Grenzziehungen. Unabhängig davon, zu welchem Staatengebilde Lemberg kurzfristig gehörte – Barvinsky schaffte es, im Amt zu bleiben, war eine musikalische Größe, auch gefeierter Star. Bis Stalin ihn 1948 mitsamt seiner Familie für zehn Jahre in einem Straflager inhaftierte: die „ukrainische Krankheit“ als Bedrohung, als potentiell staatsgefährdende Spionage. Alle seine Noten sollten vernichtet werden. Seine Werke überlebten nur dank des Schmuggelns seiner Schüler.
Mit dem zweiten Satz des von Viktor Kosenko unvollendet hinterlassenen Klavierkonzerts c-moll beendete Violina Petrychenko den Abend. In einer eigenen Fassung hat die Pianistin die Orchesterstimmen in die Klavierstimme eingearbeitet.
Zwischen den Musikstücken ordnete Christine Absmeier den Lebenslauf der Komponisten in die historischen Zusammenhänge ein. Der Blick auf die Region der heutigen Ukraine, die über ein Jahrhundert lang immer wieder von neuen Grenzziehungen und unterschiedlichen Staatszugehörigkeiten geprägt war, trägt zum Verständnis der komplizierten, krisenanfälligen Situation der Gegenwart bei.
Veranstaltungs-Info

Nach dem Zusammenbruch des russischen Zarenreichs und der Habsburger Monarchie scheiterte der Versuch, einen ukrainischen Nationalstaat dauerhaft zu etablieren. Ukrainer lebten nunmehr als Minderheit in verschiedenen neu entstandenen Staaten wie Polen, Rumänien, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion. Im Bestreben um die Ausbildung homogener Nationalstaaten unterlagen die ukrainische Kultur und Identität in unterschiedlichem Grad der Assimilierung und Unterdrückung durch die Titularnationen. Trotz allem entstanden in produktiver Konkurrenz etwa zu russischen und polnischen Musiktraditionen spezifisch ukrainische Kompositionen.
Die Pianistin und Musikwissenschaftlerin Violina Petrychenko sieht ihre Mission darin, ukrainische Musik und Kultur bekannter zu machen. In ihrer Heimatstadt Saporoschje begann sie ihre Ausbildung in Musikwissenschaft und als Pianistin. Ihr Studium führte sie nach Kiew, Weimar und Essen, gegenwärtig arbeitet und unterrichtet sie in Köln. Drei CD-Einspielungen widmete sie ukrainischen Komponisten des 20. Jahrhunderts.
In einem Gesprächskonzert stellt Violina Petrychenko bedeutende Komponisten wie Mykola Lysenko, Viktor Kosenko oder Vasyl Barvinsky vor. Anhand ihrer Lebensläufe soll die Entwicklung der ukrainischen Staatlichkeit nachvollzogen werden.
Piano: Violina Petrychenko
Moderation: Dr. Christine Absmeier, HdH BW
Der Eintritt ist frei.
Einlass bis zum Erreichen der höchstzulässigen Besucherzahl.
Die Veranstaltungsräume sind nicht barrierefrei.
Ein Gesprächskonzert im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Aufbruch und Krise - Das östliche Europa nach dem Ersten Weltkrieg":
Nach Ende des Ersten Weltkrieges wurden in Europa die Grenzen neu gezogen. Aus der Konkursmasse der früheren Reiche Russland, Österreich-Ungarn, Deutsches Reich und Osmanisches Reich entstanden neue Staaten wie die Tschechoslowakei, Jugoslawien, die baltischen Staaten oder Polen. Zunächst schien sich die Demokratie als Staatsform in ganz Europa durchzusetzen. Erstmals erhielten Frauen das Wahlrecht. Staaten wie auch Minderheiten bildeten individuelle Identitäten aus. Massenkulturelle Vergnügungen in Rundfunk und Sport waren Ausdruck moderner gesellschaftlicher Entwicklungen. Alte Ordnungen kamen ins Wanken, Umbruch lag in der Luft. Die Veranstaltungsreihe stellt die vielen Facetten einer spannungsgeladenen Epoche vor.
Abbildung Homepage-Ankündigung vorne:
Johannes Theodor Baargeld: Typische Vertikalklitterung als Darstellung des Dada Baargeld, 1920, Kunsthaus Zürich, Graphische Sammlung.
Aufbruch und Krise – weg mit der Tradition, es lebe der Zweifel, die Banalität, die Unordnung und die Satire: Dada war während und nach dem Ersten Weltkrieg eine der künstlerischen Ausdrucksformen einer verwirrenden, unübersichtlichen Zeit.