Robert Atzlinger liest Joseph Roth: Hotel Savoy

"Wie hoch kann man fallen?"
Wer im siebten Stock des Hotel Savoy ein Zimmer hat, muss mit dem Aufzug weit nach oben – und steht gesellschaftlich ganz unten. Joseph Roths literarisches Gesellschaftsbild der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ist schonungslos.
Gabriel Dan, Roths Ich-Erzähler, steht nach drei Jahren Kriegsgefangenschaft in Russland endlich wieder vor den „Toren Europas“: Er bezieht in Łódź ein Zimmer im Hotel Savoy. Ein paar Tage auf der Durchreise möchte er hier verbringen, sich an alte Zeiten erinnern, Verwandte besuchen und um Geld bitten, auch die Neugierde auf das verheißungsvolle „neue Leben“ stillen. Er beobachtet um sich ein Leben im Umbruch.
Die Varieté-Tänzerin Stasia lernt nachts in ihrer Zimmer-Zelle im siebten Stock französische Vokabeln, um irgendwann die prekären Verhältnisse in Richtung Westen verlassen zu können. Hirsch Fisch sieht seine Zukunft im Erträumen der Zahlenkombination von Lottogewinnen. Zwonimir, Kriegsheimkehrer und Revolutionär, der unter den Arbeitern im Elend „Unruhe“ stiftet, verlegt alles Gute und Schöne nach „Amerika“. Und alle warten sie auf den geheimnisvollen Bloomfield, der mit seinem sagenhaften Vermögen sämtliche Probleme löst, die sie vor sich herschieben.
Ignaz, der Liftboy, wartet nicht. Er hat sich mit dem Pfänden der Koffer verschuldeter Gäste ein einträgliches Geschäftsmodell entwickelt, entpuppt sich später als Hotelbesitzer „under-cover“. Am Ende des Romans verbrennt er in seinem Haus, das von den revoltierenden Massen gestürmt wird, Soldaten rücken ein. Die Welt des alten Europa gerät komplett aus den Fugen.
Ein treffenderes Zeitbild als Joseph Roths Roman lässt sich kaum denken. In knappster Sprache, auf nur 120 Seiten entfaltet er mit seinem schillernden Figurenarsenal das Portrait einer Epoche, die, verzweifelt und konfus, ihre eigene Ordnung sucht. Robert Atzlingers Lesung war die eindrückliche Aufforderung, den Klassiker wieder zur Hand zu nehmen.
Veranstaltungs-Info

1919 – das Hotel Savoy hat 864 Zimmer, und es wird fein sortiert: In den oberen Stockwerken wohnen die Gäste ohne Koffer, in den unteren Stockwerken residieren die Reichen. Die einen zahlen ihre Rechnungen nicht, wie der aus der Kriegsgefangenschaft in Sibirien heimgekommene Gabriel Dan, die anderen vergnügen sich in der Hotelbar.
Joseph Roths Roman nutzt das tatsächlich existierende Hotel Savoy in Łódź als Sinnbild der Nachkriegszeit. In 30 prägnanten, pulsierenden Bildern zeichnet er eine Gesellschaft, die durch den Krieg zerrissen ist, und die dabei ist, sich neu zu ordnen.
„Im Hotel Savoy konnte ich mit einem Hemd anlangen und es verlassen als der Gebieter von zwanzig Koffern (...) Vielleicht hat mich dieser Einfall so selbstbewußt gemacht, so stolz und herrisch, daß der Portier mich grüßt, (...) daß ein Boy geschäftig meiner harrt, obwohl ich gar kein Gepäck habe.“
Alles ist möglich.
In ausgewählten Kapiteln entfaltet Robert Atzlinger die gesamte, mehrsträngige Handlung.
Lesung von Robert Atzlinger
Der Eintritt ist frei.
Einlass bis zum Erreichen der höchstzulässigen Besucherzahl.
Die Veranstaltungsräume sind nicht barrierefrei.
Eine Lesung im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Aufbruch und Krise - Das östliche Europa nach dem Ersten Weltkrieg":
Nach Ende des Ersten Weltkrieges wurden in Europa die Grenzen neu gezogen. Aus der Konkursmasse der unterlegenen Reiche Russland, Österreich-Ungarn, Deutsches Reich und Osmanisches Reich entstanden neue Staaten wie die Tschechoslowakei, Jugoslawien, die baltischen Staaten oder Polen. Zunächst schien sich die Demokratie als Staatsform in ganz Europa durchzusetzen. Erstmals erhielten Frauen das Wahlrecht. Staaten wie auch Minderheiten bildeten individuelle Identitäten aus. Massenkulturelle Vergnügungen in Rundfunk und Sport waren Ausdruck moderner gesellschaftlicher Entwicklungen. Alte Ordnungen kamen ins Wanken, Umbruch lag in der Luft. Die Veranstaltungsreihe stellt die vielen Facetten einer spannungsgeladenen Epoche vor.
Abbildung:
Johannes Theodor Baargeld: Typische Vertikalklitterung als Darstellung des Dada Baargeld, 1920, Kunsthaus Zürich, Graphische Sammlung.
Aufbruch und Krise – weg mit der Tradition, es lebe der Zweifel, die Banalität, die Unordnung und die Satire: Dada war während und nach dem Ersten Weltkrieg eine der künstlerischen Ausdrucksformen einer verwirrenden, unübersichtlichen Zeit.