Gerta. Das deutsche Mädchen

Leerstellen der Geschichte
In Tschechien hat ein Bestseller eine Auflage von 10.000 Exemplaren, darauf wies Jaroslav Rudiš hin. Gerta. Das deutsche Mädchen wurde mittlerweile 50.000mal verkauft. Im Gespräch überlegten die Autorin des Romans, Kateřina Tučková, und Jaroslav Rudiš, Schriftsteller, Geschichts-Enthusiast und begeisterter Vermittler in Sachen Deutsch-Tschechische Beziehungen, worin die Gründe für diesen enormen Erfolg liegen könnten.
Das Thema „Vertreibung der Deutschen nach Ende des Zweiten Weltkriegs“ war lange Zeit in Tschechien ein Tabu, darin stimmten die beiden Literaten überein. Rudiš erinnerte sich an seine Großeltern, stalinistisch sozialisiert: „Die guten Deutschen leben in der DDR, die bösen in der BRD – die schlimmsten waren die Sudetendeutschen.“ Kateřina Tučková, Jahrgang 1980, lernte im Gymnasium: „Die Deutschen haben nach dem Zweiten Weltkrieg die Tschechoslowakei verlassen.“ Später fand sie in Brünn Spuren einer multikulturellen, bunten, tschechisch-jüdisch-deutschen Vielvölkerstadt, die so heute nicht mehr existiert. Die Leerstellen interessierten sie, und sie begann zu recherchieren, in Archiven, in Gesprächen mit Zeitzeugen. In ihren Roman, der die Geschichte der Gerta Schnirch aus deutsch-tschechischer Familie erzählt, sind die Ergebnisse mit eingeflossen. Die fulminante Lesung daraus von Isabel Schmier vermittelte eindrücklich die düstere Stimmung, die schockierenden Erlebnisse der historisch begründeten Figur. Der Verkaufserfolg des Buchs in Tschechien zeigt, dass ein Thema, das lange nur Historiker beschäftigte, nun auch in der Bevölkerung auf Resonanz stößt. Tučkovás Entscheidung, die Geschichte aus der Perspektive einer deutschen (!) Frau (!) zu erzählen, war provokant – und offensichtlich richtig.
Seit 2015 findet die „Wallfahrt der Versöhnung“ in Erinnerung an den Brünner Todesmarsch statt, für Tučková und Rudiš eine wichtige, große Geste. Kateřina Tučková setzt ihre aufklärerische Arbeit fort, mit der sie historische Themen vor dem Vergessen rettet: Der Roman, an dem sie aktuell arbeitet, spielt im Kloster Weißwasser. Dort wurden in den 1950er Jahren Nonnen aus der gesamten Tschechoslowakei interniert – es entwickelte sich eine Keimzelle des Widerstands.
Veranstaltungs-Info

Kateřina Tučková greift in ihrem, in der Tschechischen Republik bereits 2009 erschienen Roman Gerta. Das deutsche Mädchen ein lange tabuisiertes Thema auf: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg. 2010 wurde der Roman mit dem wichtigsten Literaturpreis des Landes, dem Magnesia Litera, ausgezeichnet. Jetzt liegt er in deutscher Übersetzung vor. Anhand des Einzelschicksals der Gerta Schnirch erzählt die Autorin ein Stück tschechisch-deutscher Geschichte.
In Brünn wächst Gerta in einer gespaltenen Familie auf: Der Vater, ein Deutscher, ist ein Anhänger Hitlers, die Mutter ist Tschechin und stirbt nach der Errichtung des deutschen Protektorats 1938. Die Familie zerfällt, wie die Gesellschaft, in ihren tschechischen und deutschen Teil - und Gerta wird vom eigenen Vater schwanger. Zum Staatsfeind erklärt wir sie 1945 im "Brünner Todesmarsch" vertrieben, Jahre später kehrt sie zurück und lebt, stigmatisiert als Deutsche, am Rande der kommunistischen Gesellschaft. Kateřina Tučková baut in ihren Roman Zeitzeugenaussagen und offizielle Quellen ein und verwebt alles zu einer fesselnden literarischen Fiktion.
Kateřina Tučková im Gespräch mit Jaroslav Rudiš. Lesung: Isabel Schmier, HMDK Stuttgart
30 Jahre Städtepartnerschaft Stuttgart-Brünn
In Kooperation mit dem Literaturhaus Stuttgart, dem Schauspiel Stuttgart und dem Institut für Sprechkunst und Kommunikationspädagogik der HMDK Stuttgart
Gefördert durch die Stadt Stuttgart, die Konrad-Kohlhammer-Stiftung und das Tschechische Zentrum München
Der Eintritt ist frei.
Achtung: Beginn 19.30 Uhr!
Einlass bis zum Erreichen der höchstzulässigen Besucherzahl.
Die Veranstaltungsräume sind nicht barrierefrei.
© Foto Kateřina Tučková: Lenka Hatasova