Dynamisch europäisch - Estland, Lettland, Litauen

Kommen „Europas Musterschüler“ in die Pubertät?
Estland, Lettland und Litauen galten lange als die Musterschüler der EU. Seit einiger Zeit erhält dieses Bild die ersten Kratzer. Sind beginnende Sorgen berechtigt?
Der Politikwissenschaftler und Baltikumexperte Dr. Tobias Etzold eröffnete im HdH BW das Podium mit einem Impulsvortrag. Kurz umriss er die Situation der drei baltischen Staaten, die seit ihrer Unabhängigkeit von der Sowjetunion in den 1990er Jahren ein großes, außenpolitisches Ziel einte: Die Einbindung in europäische und transatlantische Strukturen. Mittlerweile sind Estland, Lettland und Litauen voll integrierte Mitglieder der EU, gehören zur Eurozone, sind dem Schengener Abkommen beigetreten, und sie sind Teil der NATO. Allen drei Staaten scheint es gut zu gehen: Sie erfüllen die Maastrichter Konvergenzkriterien, Umfragen belegen bei der Bevölkerung eine Zustimmungsrate zur EU zwischen 50 und 70 Prozent, 2018 erhielten sie gemeinsam den Internationalen Preis des Westfälischen Friedens für ihren Einsatz für den Zusammenhalt Europas.
Kristine Bähr-Gurtiņa, Tourismusexpertin aus Riga, bestätigte es: In Lettland gebe es freie Arbeitsplätze, die Infrastruktur sei ausgebaut, es herrsche noch immer Aufbruchstimmung, werde mit Energie Neues gestartet. Aber sie sieht auch Konfliktfelder. Die Löhne und Renten seien nicht den Lebenshaltungskosten entsprechend gestiegen, die Erwartungen vieler an die Westorientierung dadurch enttäuscht. Innerhalb Lettlands, so Bähr-Gurtiņa, zementiere ein quasi zweigeteiltes Schulsystem die Separierung der großen russischen Bevölkerungsgruppe, deren Kinder englisch und russisch lernen, aber nicht lettisch sprechen. Die Medien in Lettland berichten zunehmend über Korruptionsfälle, die Jugend wandert ab in andere europäische Staaten. Kleine Nationen haben wenig Gewicht in EU-Parlament und –Rat, die Empfindung dieses Repräsentationsdefizits frustriert und dient nicht dem bürgerlichen Engagement – das Thema „Globaler Klimawandel“ ist in der baltischen Gesellschaft kaum präsent.
Ege Tatarmäe vom Europe Direct Informationszentrum Läänemaa/Estland kennt eine weitere Tendenz, die Europa Sorgen macht: Die nationalistische und EU-feindliche Partei Ekre ist seit den Wahlen 2019 an der Regierung beteiligt. Zwei Jahre nach dem gefeierten Vorsitz Estlands im Rat der EU steht zwar zu befürchten, dass die früheren Musterschüler zukünftig für mehr Konflikte sorgen. Aber Tobias Etzold sieht keine Krise, sondern einen gesunden „EU-Pragmatismus“ bei der Bevölkerung, und Kristine Bähr-Gurtiņa betont, dass es der lettischen Bevölkerung noch nie so gut gegangen sei wie momentan.
Veranstaltungs-Info

Wechselnde fremde Herren hinterließen den baltischen Ländern Estland, Lettland und Litauen ein vielfältiges kulturelles Erbe und einen unbändigen Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit. Der Zusammenbruch der Sowjetunion ermöglichte den Aufbruch ins digitale Zeitalter, die Menschen gestalteten ihre Länder in einem rasanten Modernisierungsschub um. Der Beitritt zur EU 2004 erschien vielen als logische Konsequenz dieser Entwicklung.
Was bringen die baltischen Staaten in die EU ein? Welchen Umgang pflegen sie mit ihren Minderheiten und Wendeverlierern? Und wie gehen sie mit den Herausforderungen um, die ganz Europa betreffen (z.B. Migration und Klimawandel)? Haben sie eigene Antworten?
Podiumsdiskussion mit
Kristine Bähr-Gurtiņa, Tourismusexpertin Riga
Dr. Tobias Etzold, Nordeuropa- und Baltikumexperte Kiel/Berlin
Ege Tatarmäe, Koordinatorin des Europe Direct Informationszentrums Läänemaa/Estland
In Kooperation mit dem Europa Zentrum Baden-Württemberg und europe direct Stuttgart
Mit Unterstützung des Ministeriums der Justiz und für Europa Baden-Württemberg
Der Eintritt ist frei.
Einlass bis zum Erreichen der höchstzulässigen Besucherzahl.
Die Veranstaltungsräume sind nicht barrierefrei.