Blickwechsel - Osteuropa

Lesung & Gespräch
Vom "Virus des Schreibens" infiziert
Schon als Jugendlicher habe er sich mit dem „Virus des Schreibens" infiziert, erzählte Dimitré Dinev seiner Gesprächspartnerin Silke Arning. Am deutschsprachigen Bertolt-Brecht-Gymnasium in Plowdiw verfasste er Gedichte auf Bulgarisch. Seine Heimat verließ er 1990, nach den ersten freien Wahlen. Aus der Begeisterung, die er beim Beobachten einer ins Straucheln geratenen, vorher scheinbar unerschütterlichen Macht empfunden hatte, war tiefe Enttäuschung geworden: Die Kommunisten, laut Dinev niemals tatsächlich links sondern schlichtweg feudalistisch, durften nach Willen des Volkes weiterregieren – nie wieder möchte er in dieses Land zurück, sagt er heute.
Seit 1991 schreibt Dinev, den eine abenteuerliche Flucht (als Geheimnisträger der Armee durfte er auch1990 noch nicht ausreisen) nach Österreich führte, Erzählungen, Drehbücher, Theaterstücke und noch viel mehr in Deutsch. Dabei habe ihm sein Philosophiestudium geholfen. Das Erlernen eines „disziplinierten Umgangs“ mit Begriffen habe Mut gemacht. Mittlerweile schätze er, eine „Sprache ohne Kindheit“ als Literatursprache nutzen zu können. Hier seien ihm keine Tabus und Reglementierungen anerzogen worden, in dieser „Narrenfreiheit“ könne er, wie Tschechow formuliert, „enge Worte“ finden, die gerade in ihrer Reduktion dem Leser besonders viel weiten Raum lassen.
Momentan arbeitet Dinev an einem neuen Roman – die seiner Meinung nach mit Abstand größte Herausforderung für einen Schriftsteller. Vielschichtig einen europäischen Kosmos abbildend, auch komplex, Bezüge zu biblischen Apokryphen einsetzend, mit einem packenden Personal wie bei seinem prämierten Erstling Engelszungen wird er sein. Wann er erscheinen wird, ist noch nicht absehbar, denn da spielen auch, ganz profan, seine noch kleinen Kinder eine Rolle.
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Dimitré Dinev im Gespräch mit Silke Arning
Die Helden seiner Geschichten sind die kleinen Leute, die im Dunkel, am Rande der Gesellschaft stehen: Gelegenheitsarbeiter, Arbeitslose, Asylsuchende. Von ihrer Hoffnung und Verzweiflung erzählt Engelszungen, der Roman von Dimitré Dinev, der von der Kritik begeistert gefeiert wurde: „fröhliches Pathos und tiefschwarzer Humor“, „eine komische und traurige Familiensaga“, lobte Die ZEIT, „traumschön geschrieben“. Er verarbeitet Erfahrungen, die Dinev selbst gemacht hat.
Nach den ersten freien Wahlen 1990 und dem Sieg der sozialistischen Partei verließ Dimitré Dinev sein Heimatland Bulgarien, das Land, das seine „Henker wählt“. Er fand Aufnahme im österreichischen Flüchtlingslager Traiskirchen, studierte in Wien Philosophie und russische Philologie, war ständig von der Abschiebung bedroht. Seit 1991 schreibt Dinev, der im bulgarischen Plovdiv das Brecht-Gymnasium besucht hat, auf Deutsch: Erzählungen, Drehbücher und Theaterstücke und auch seinen Roman. Der mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnete Autor lebt mit seiner Familie in Wien.

Blickwechsel - Osteuropa
Sie stammen aus dem östlichen Europa und leben heute im deutschen Sprachraum. Sie schreiben und publizieren in Deutsch und werfen in ihren Texten einen Blick zurück/hinüber in das Land ihrer Herkunft. Dieser Blickwechsel ist Entdeckung, ermöglicht eine neue, eigene Sicht. Er steht für den lebendigen Dialog der Kulturen. Im Schreiben verschmelzen Aspekte der deutschen und der osteuropäischen Geschichte.
Dimitré Dinev, Radek Knapp und Marica Bodrožić sprechen in den drei Veranstaltungen der Reihe jeweils über ihre schriftstellerische Arbeit zwischen den Kulturen, berichten von Grenzüberschreitungen und lesen aus ihren Werken.
Silke Arning hat Russisch, Polnisch und Geschichte mit Schwerpunkt Osteuropäische Geschichte in Münster, Bonn, Lublin und London studiert. Seit vielen Jahren ist sie als SWR-Redakteurin und Reporterin für die Sparten Religion, Migration und Gesellschaft tätig, sowie als Moderatorin verschiedener Rundfunk-Sendungen.
Der Eintritt ist frei.
Einlass bis zum Erreichen der höchstzulässigen Besucherzahl. Die Veranstaltungsräume sind nicht barrierefrei.
© Foto Dimitré Dinev: Reinhard M. Werner