"Ein seltsamer Roman, mein Leben" - Imre Kertész

"Auschwitz spricht aus mir"
Imre Kertész wurde mit 14 Jahren in das Konzentrationslager Auschwitz, später von dort aus nach Buchenwald und in das Außenlager bei Zeitz deportiert. Er überlebte. Am 11. April 1945 wurde das Lager befreit, er ging zurück in seine Heimatstadt Budapest. 1973, nach 13 Jahren Arbeit, schloss Kertész seinen Roman eines Schicksallosen ab, indem ein jugendlicher Ich-Erzähler exakt dieses erlebt.
Irene Ferchl beschrieb im HdH BW, wie unauflösbar eng Autobiografie und Fiktion in Kertész‘ Werk verknüpft sind. So eng, dass der Autor selbst betonen musste: „Der Roman ist ein Trick – kein Leben.“ Die Figuren existieren in der Sprache, dem Erzählen, dort herrschen Gesetze, und diese Gesetze überlistet das Stilmittel der Ironie. Imre Kertész schrieb einen ironischen Roman über Auschwitz, eine „literarische Parodie“ – das war anstößig, fand nur schwer einen Verleger, und ist noch heute so verstörend, dass immer wieder gefordert wird, ihn zur schulischen Pflichtlektüre beim Thema Nationalsozialismus zu machen.
Barbara Stoll gelang es mit ihrer Lesung aus mehreren Kapiteln, diese schier unerträgliche Perspektive zu vermitteln: Da berichtet ein neugieriger Jugendlicher über seine Beobachtungen, er registriert und akzeptiert, erkennt die Mechanismen und möchte ein mustergültiger Gefangener sein, lobt die Effizienz. Es geht nicht um Schuld, es gibt kein Gut und Böse, Ferchl: Es gibt keinen Blickpunkt außerhalb. Das beunruhigt nicht durch pathetischen Ton oder erschreckende Szenen, sondern als Ganzes, durch eine „konsequent amoralische Perspektive“.
Das Duo Bluesette rundete den Abend ab. Katharina Wibmer auf der Geige und Frank Eisele spielten Jiddisches voller Trauer und Melancholie, auch Beschwingt-Lebensfrohes, das zum Grundton der Veranstaltung passte. In einer kurzen Einführung beschrieb Dr. Gábor Bednanics vom Imre-Kertész-Institut Budapest, wie viel mittlerweile getan wird, um das Gesamtwerk des 2016 verstorbenen Autors zu würdigen.
Veranstaltungs-Info

Im Juli 1944, als 14-Jähriger wurde Imre Kertész wegen seiner jüdischen Abstammung über Auschwitz in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Im April 1945 wurde er befreit und kehrte nach Budapest zurück. Die Erfahrung dieser Monate hat er später in seinem Erstling Roman eines Schicksallosen verarbeitet. Diesem Buch, erzählt aus der Perspektive eines staunenden, gelehrigen Jungen, gelingt eine Entmystifizierung der Schrecken dieser Lager; es wurde zu einem der wichtigsten Werke über den Holocaust. Erst 1975, nach jahrelanger Arbeit und mehrfacher Zurückweisung wegen seines vermeintlich anstößigen Inhalts, konnte der Roman eines Schicksallosen in Ungarn erscheinen. Die erste Übersetzung ins Deutsche erfolgte nach der Wende 1990, die Neuübersetzung von Christina Viragh kam 1996.
In den 90er Jahren wurde Imre Kertész auch mit seinen anderen Büchern bekannt: Fiasko, Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, Galeerentagebuch und Ich – ein anderer. 2002 erhielt er für sein Lebenswerk den Literaturnobelpreis. Nachdem er von 2001 an überwiegend in Berlin gelebt hatte, kehrte Imre Kertész 2012 wegen seiner Krankheit nach Budapest zurück, wo er am 31. März 2016 verstarb.
Irene Ferchl stellt den Roman eines Schicksallosen, die Fragen des Autobiografischen und Allegorischen darin, ins Zentrum ihres Vortrags. Barbara Stoll liest entsprechende Passagen, Katharina Wibmer und Frank Eisele umrahmen musikalisch.
Im Rahmen der Jüdischen Kulturwochen Stuttgart
In Kooperation mit dem Ungarischen Kulturinstitut Stuttgart und dem Imre-Kertész-Institut Budapest
Der Eintritt ist frei.
Einlass bis zum Erreichen der höchstzulässigen Besucherzahl.
Die Veranstaltungsräume sind nicht barrierefrei.
Am 19. Oktober wird die Veranstaltung im Rahmen der Frankfurter Buchmesse im Steigenberger Hotel Frankfurter Hof uraufgeführt.